© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Schlimmer als die Berliner Mauer
Aufarbeitung von DDR-Unrecht: Die innerdeutsche Grenze forderte insgesamt 327 Todesopfer / Forscher stellen neue Studie vor
Christian Vollradt

Hammer und Zirkel im Ährenkranz, das Wappen des selbsternannten Arbeiter- und Bauernstaates DDR, ist auf dem dunkelgrünen Sozialversicherungsausweis eingeprägt. Im Ährenkranz klafft ein kleines Loch mit Schmauchspuren. Es stammt von der Kugel eines DDR-Grenzpostens, die danach in die Brust des 23 Jahre alten Fred Woitke einschlug und ihn tödlich verletzte. Der junge Straßenbauarbeiter, der im April 1973 am Grenzübergang Marienborn bei seinem Fluchtversuch getötet wurde, gehört damit zu den 327 Todesopfern, die das DDR-Regime an der innerdeutschen Grenze in der Zeit von 1949 bis 1989 gefordert hat. 

„Bild von den Grenztruppen hat sich geändert“

Zu dieser Gesamtzahl kommt eine Studie des Forschungsverbunds SED-Staat der Freien Universität Berlin, die am Mittwoch vergangener Woche vorgestellt wurde. Mit dieser Untersuchung schlossen die Wissenschaftler ihre Aufarbeitung der Todesfälle an der knapp 1.400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze ab, nachdem die Zahl der an der Berliner Mauer bei Fluchtversuchen Getöteten (mindestens 139) bereits 2009 in einem Vorgängerprojekt erforscht worden war. 

Die innerdeutsche Grenze „war, wenn der Zynismus erlaubt ist, noch brutaler als die Berliner Mauer“, sagte Projektleiter Klaus Schroeder. „Menschen, die auf Bodenminen traten, sind zerfetzt worden, zum Teil sind sie im Unterholz nicht gesehen worden, Monate später wurden sie skelettiert als Leichen gefunden.“ Noch heute litten Angehörige der Opfer von damals, und auch die Mitarbeiter des Projekts seien während ihrer Arbeit mit traumatischen Erfahrungen konfrontiert worden, so Schroeder. „Die Toten sind ja nur die Spitze des Eisbergs, hinzu kommen als Opfer auch die vielen Verletzten.“ 

Die Forscher zählten 238 Todesopfer im Grenzgebiet (siehe Infokasten), darunter 42 Todesfälle ohne Fluchthintergrund durch Schußwaffen, Minen oder Unfälle im Grenzraum und in den Grenzanlagen; außerdem 24 Todesfälle „in Ausübung des DDR-Grenzdienstes“ (erschossene Grenzsoldaten) sowie 44 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und -soldaten mit dienstlichem Hintergrund. In einem Fall hatte sich zum Beispiel ein Grenzer das Leben genommen, nachdem er unmittelbar zuvor ein Minenopfer bergen mußte. 

„Unser Bild von den Grenztruppen hat sich geändert“, so Mitherausgeber Jochen Staadt. „Es gab viele junge Männer, die ihre Weigerung, auf Flüchtlinge zu schießen, bekundeten.“ Daher habe es pro Jahr etwa 1.000 Versetzungen aus dem Grenzdienst gegeben. „Viele von ihnen verrichteten diesen Dienst nicht aus freiem Willen, manche zerbrachen daran. Auch ihnen wurde das DDR-Grenzregime zum tödlichen Verhängnis“, so Staadt. 

80 Prozent der Fluchtversuche wurden schon im Vorfeld unterbunden,15 Prozent der Flüchtlinge wurden im Grenzraum festgenommen, fünf Prozent waren erfolgreich. Noch nicht berücksichtigt wurden in der Untersuchung die bei der Flucht über die Ostsee ums Leben gekommenen DDR-Flüchtlinge sowie die Toten der „verlängerten Mauer“, also der Grenzen der sogenannten „sozialistischen Bruderstaaten“. 

Schroeder hob bei der Vorstellung auch hervor, daß von einer„Siegerjustiz“ nach der Wiedervereinigung nicht die Rede sein könne: „Die Verfahren gegen DDR-Grenzpolizisten und Grenzsoldaten, denen eine tödliche Schußabgabe auf Flüchtlinge an der DDR-Grenze nachgewiesen werden konnte, endeten entweder mit Freisprüchen oder Bewährungsstrafen.“ Nur 30 Personen, davon neun Schützen, wurden ohne Bewährung verurteilt. 

Das Forschungsprojekt wurde mit 642.000 Euro gefördert, den Mammut-anteil übernahm der Bund. Beteiligt haben sich auch die Länder Hessen, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt. Kritik äußerten die Herausgeber der Studie an den anderen Bundesländern, die eine Kostenbeteiligung zum Teil ohne Begründung abgelehnt hatten. 

Statistisch waren die meisten, die beim Versuch, den Arbeiter- und Bauernstaat zu verlassen, getötet wurden, junge Arbeiter, Bauern oder Handwerker. So wie der Straßenbauer und gelernte Zimmermann Fred Woitke. Die Ermittlungsverfahren gegen die beteiligten Schützen wurden 1996 eingestellt. 





Zahlen aus der Studie

238 Todesopfer im Grenzgebiet, gruppiert nach den Umständen ihres Todes

darunter

? 114 Flüchtlinge

? 42 Todesfälle ohne Fluchthintergrund durch Schußwaffen, 

Minen oder Unfälle im Grenzraum und in Grenzanlagen

? 24 Fälle von Fahnenflüchtigen der DDR-Grenztruppen, 

die erschossen wurden, Minen auslösten, ertranken 

oder nach dem Scheitern ihres Fluchtversuchs Suizid verübten

? 2 Todesfälle von westdeutschen Zollbeamten, die von DDR-Grenzpolizisten erschossen wurden

24 Todesfälle in Ausübung des DDR-Grenzdienstes

darunter

? 9 Grenzsoldaten, erschossen von Fahnenflüchtigen

? 3 Grenzpolizisten, erschossen von Patrouillen der US-Streitkräfte

? 1 Grenzsoldat, erschossen durch Mitarbeiter des Bundesgrenzschutzes

21 Todesfälle im kausalen Zusammenhang des DDR-Grenzregimes

darunter

? 8 hingerichtete ehemalige DDR-Grenzpolizisten

? 6 Personen, erschossen von sowjetischen, CSSR- oder NVA-Deserteuren

? 1 von einem betrunkenen Grenzsoldaten erschossener Zivilist

? 1 in Moskau hingerichteter Zollbeamter

44 Selbsttötungen von Grenzpolizisten und Grenzsoldaten mit dienstlichem Hintergrund

Klaus Schroeder, Jochen Staadt (Hrsg.): Die Todesopfer des DDR-Grenzregimes an der innerdeutschen Grenze 1949–1989, Verlag Peter Lang 2017, gebunden, 684 Seiten, 49,90 Euro