© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Akademiker vom Fließband
Normierung und Austauschbarkeit statt Bildung der Individualität: Der Bologna-Prozeß an den Universitäten sagt Humboldt ade
Fabian Schmidt-Ahmad

Nur ein Jahr wirkte der preußische Staatsmann und Wissenschaftler Wilhelm von Humboldt als „Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Ministerium des Inneren“ und damit faktisch als Preußens Kultusminister. Und doch sollte er in diesem einen Jahr das deutsche Bildungswesen stärker prägen als irgendein Reformer vor oder nach ihm. Das dreigliedrige Schulsystem begleitet uns noch heute. Die 1809 gegründete Berliner Universität, die spätere Humboldt-Universität, wurde nicht nur in Deutschland, sondern weltweit ein leuchtendes Vorbild.

Doch zwischen Humboldts Reformen und unserer Gegenwart liegen gewaltige Verwerfungen: die industrielle Revolution, Aufstieg und Fall eines Kaiserreichs, die Weltkriege und die Gründung der Bundesrepublik sowie der Europäischen Union. Letztere treibt seit 1999 im sogenannten Bologna-Prozeß eine europaweite „Harmonisierung“ – sprich: Vereinheitlichung – der europäischen Hochschullandschaft voran. Er soll vor allem die Mobilität von Studenten und Hochschullehrern fördern, leicht verständliche und vergleichbare Abschlüsse wie Bachelor und Master durchsetzen und ein Leistungspunktesystem einführen. Angesichts dessen ist die Frage durchaus legitim, ob uns Humboldt heute jenseits von Schlagworten wie „Freiheit von Forschung und Lehre“ noch etwas bieten kann.

Der Zweck des Menschen liegt im Menschen selbst

Was war die Idee hinter Humboldts Bildungsreformen? Die Antwort führt tief in die Hochzeit des deutschen Geisteslebens. 1794 zieht Humboldt für einige Jahre nach Jena, um dem verehrten Friedrich Schiller nahe zu sein. Auch mit Johann Wolfgang von Goethe beginnt eine lebenslange Freundschaft. Dabei verstanden die drei den Umgang miteinander als planmäßiges Bildungsprogramm: „Sie wissen selbst“, schreibt Goethe 1798 in einem Brief an Humboldt, „wie sehr wir in dem Kreise, in dem wir nun schon eine Zeitlang zusammenleben, uns wechselseitig auszubilden unaufhörlich gearbeitet haben.“

Was ist das für ein Bildungsprogramm? Jedes Erziehungskonzept geht von einem Ziel aus: einmal ist es der gesetzestreue Untertan, ein andermal der mündige Bürger und so weiter. Allen Konzepten ist gemein, daß der Mensch zu etwas erzogen werden soll. Hier aber geht es um radikale Selbstbildung. Der Zweck des Menschen liegt nur im einzelnen Menschen selbst, ist Humboldts feste Überzeugung. Ausdruck davon ist die Ausbildung von Individualität. Nichts anderes als deren größtmögliche Steigerung, die Ausgestaltung einer „totalen Persönlichkeit“, steht hinter Humboldts Bildungsidee.

„Alle Segnungen im Innern strömen aus dem Geist“

Ein hedonistisches Selbstverständnis? Das Bildungskonzept eines selbstverliebten Adligen? Auf größere, soziale Zusammenhänge nicht übertragbar? Alles das und noch viel mehr hatten Kritiker auszusetzen. Unbeirrt blieb der Bildungsreformer seiner Idee treu. Für Humboldt geht die menschliche Entwicklung von „einfachen, gleichförmigen Lagen“ aus. Das sind soziale Verhältnisse, durch die der einzelne rigide – und mit wenig Möglichkeit zur Ausbildung von Individualität – erzogen und in ein Gemeinwesen eingebunden wird. Doch bei diesen ursprünglichen „Lagen“, die Humboldt sowohl für den einzelnen wie die Menschheit insgesamt ausmacht, darf der Mensch nicht stehenbleiben. Im Einklang mit seiner inneren Entwicklungsstufe muß der einzelne neue „Lagen“ durchleben, neue Lebensverhältnisse aufsuchen, die seiner sich stets steigernden Individualität weiteres Material liefern. Das bedeutet aber notwendig ein wachsendes Maß an Selbsttätigkeit für den einzelnen, durch die er sich in das Gemeinwesen einbringen kann. „Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen“, fordert Humboldt als soziale Maxime.

Eben dies wollte Humboldt mit seinem Reformprogramm nachbilden. Einfache, gleichförmige Lagen, das ist der Elementarunterricht, der wesentliche Grundlagen vermittelt. Von hier ausgehend, soll der einzelne in Selbsttätigkeit aufsteigen hin zur freien Wechselwirkung von Individualität zu Individualität, wie es an der Universität gelebt werden soll. Für Humboldt bedeutet Steigerung von Individualität nicht Isolation des einzelnen, sondern Verweis auf Höheres.

Das Ich, indem es sich als Ich gewahr wird, sucht in der Welt ein Du. Indem das Ich ein Du findet, erlebt es sich selbst im Du widergespiegelt. Das ist aber für Humboldt das soziale Urbild, das jeder menschlichen Gemeinschaft hinterlegt ist: der Verbindung von zwei Menschen, dem Zusammenschluß einer Nation, als Teil der Menschheit insgesamt. Der Bildungsreformer Humboldt mußte daher zwangsläufig zum Politiker werden, der die Einheit Deutschlands vorantrieb. „Deutschland muß frei und stark sein“, schreibt der preußische Diplomat, als er die deutschen Staaten auf einen Waffengang mit Frankreich vorbereitet, „weil nur eine auch nach außen hin starke Nation den Geist in sich bewahret, aus dem auch alle Segnungen im Innern strömen“.

Das ist weit entfernt von dem Staatsverständnis der EU. Und auch der Bologna-Prozeß versteht sich als ein System, das aus der Politik heraus akademisches Leben normieren und vereinheitlichen will. Damit steht dieser Prozeß eher in der Tradition der „université impériale“, der 1808 unter Napoleon neu gegründeten Sorbonne, die sich zugleich als staatliche Anstalt verstand. Humboldt dagegen wollte das „Geschäft“ seiner Schulbehörde so schnell wie möglich „gänzlich in die Hände der Nation niederlegen“. Die Berliner Universität als Konkurrenzprojekt zur Sorbonne sollte sogar mit eigenen Domänen ausgestattet werden, damit auch ein indirekter politischer Einfluß über den Etat aus dem akademischen Betrieb hätte herausgedrängt werden können.

Studieren nach Art eines Computerspiels

Humboldts Konzept hat also die absolute Freiheit als Grundlage, indem sich Geist mit Geist messen soll. Selbst im beschaulichen Preußen suchte er bewußt eine konkurrierende Spannung zwischen den Universitäten in Berlin und Frankfurt an der Oder aufzubauen, damit Studenten ihren individuellen Neigungen gemäß ihren Ort finden. Der Bologna-Prozeß versucht das genaue Gegenteil zu erreichen. Indem er für sich in Anspruch nimmt, jedem Studium ein objektives System vorzugeben, will er Vereinheitlichung und Vergleichbarkeit erreichen. Dann aber wäre es schlußendlich unerheblich, ob ein Student sein kommendes Semester in Paris oder Brüssel, Berlin oder Rom fortsetzt. Denn in Paris wie Brüssel, Berlin wie Rom würde dann das gleiche gelehrt.

Was ist besser, „Freiheit und Mannigfaltigkeit der Situationen“ oder doch „Mobilität und Vergleichbarkeit“?  Eduard Spranger, dessen reformpädagogischer Einfluß auf das Schulwesen der jungen Bundesrepublik nicht überschätzt werden kann, sowie andere wiesen darauf hin, daß die Akteure der deutschen Märzrevolution die erste Generation waren, die Humboldts Schulen durchlaufen hatten. Es ist die permanente Revolution des Geistes, die Entfesselung der individuellen Kraft, die sich notwendig bis ins Soziale durchschlagen wird. Humboldt war sich dessen vollauf bewußt, wie seine politischen Denkschriften zeigen. Aus seiner Sicht mußte er dem Geist nur den Weg bereiten, alles übrige werde sich aus dessen eigener Kraft heraus ergeben, die Forderung nach politischer Freiheit und Einheit.

Die Schaffung eines normierten Menschen nach politischen Vorgaben klingt dagegen nicht nur entfernt nach Marxismus. Dieser kennt keinen Geist, was seine verschiedenen Spielarten seit jeher vor die Schwierigkeit stellt, geistige Arbeit materiell erfassen zu wollen. Das Europäische System zur Übertragung und Akkumulierung von Studienleistungen (ECTS) kann als ein solcher Versuch gelten. Hier soll der „Arbeitsaufwand“ eines Studiums durch Formeln, Tabellen und sonstige bürokratische Vorgaben in „Credit Points“ transponiert werden, die vom Studenten in einem Fach gesammelt werden können. Seit der flächendeckenden Einführung vor über zehn Jahren ähnelt das Studium an einer deutschen Hochschule daher einem Computerspiel, immer auf der Jagd nach Punkten für das nächste „Level“.

Die Probleme dieses Systems waren bereits nach der Einführung offenkundig. Sie resultieren in einem verflachten, verschulten Studium, wie Hochschullehrer immer wieder betonen. Wer nach drei Normjahren mit einem Bachelor die Universität verläßt, hat kein Tiefenwissen, wer ein Masterstudium anhängt, kann nicht fehlende Grundlagen nachholen.

Warum trotz dieser unübersehbaren Mängel unbeirrt an dem Bologna-Prozeß festgehalten wird, dürfte wohl der Politik geschuldet sein. Wo sonst, wenn nicht hier, kann Personal herangezogen werden, welches gelernt hat, politische Vorgaben als „Wissenschaft“ umzusetzen. Erwünschte Positionen generieren für Lehrer Forschungsgelder und für Studenten Credit Points, was davon abweicht, gilt schnell als „Hetze“, selbst wenn es die Lebenswirklichkeit ist. Übrig bleibt von der akademischen Freiheit nur die bloße Attitüde des studentischen Berufsrevolutionärs, der von der Welt keine Ahnung hat, aber stets für eine bessere streitet. 

Foto: Erstsemesterstudenten für die Massenabfertigung, hier Ruhruniversität Bochum: Humboldts Konzept hat die absolute Freiheit als Grundlage, indem sich Geist mit Geist messen soll – ohne Eingriffe von Staats wegen