© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 25/17 / 16. Juni 2017

Das Volk wird entmündigt
Neototalitarismus: Das öffentliche und private Leben ist immer mehr einem Tugendterror unterworfen
Thorsten Hinz

Wie soll man einen Zustand bezeichnen, in dem die Demokratie zur Fassade ihrer Negation geworden ist? In dem die Einheit von Staatsvolk, Staatsterritorium und Staatsgewalt von der Regierung aufgehoben, der Demos durch die Politik der offenen Grenzen außer Kraft gesetzt und Widerstand als undemokratisch gegeißelt wird? Der Begriff „Postdemokratie“ verweist auf die Abwesenheit von etwas, ohne zu benennen, was an seine Stelle getreten ist. Zur Charakterisierung der aktuellen Herrschaftspraxis reicht er nicht aus, weil er die Dynamik und Zielrichtung des Prozesses nicht erfaßt. Beginnt sich vor unseren Augen ein Neototalitarismus zu entfalten?

Der Rückgriff auf den Totalitarismus-Begriff erscheint nur absurd, wenn man ihm lediglich die klassischen Definitionen von Hannah Arendt, Zbigniew Brzezinski und Carl J. Friedrich zugrunde legt. Sie verstanden darunter eine Synthese aus stringenter, eschatologisch angelegter Ideologie und organisiertem Terror, die mittels Staatspartei, Geheimpolizei, zentral gelenkter Presse und einer gesteuerten Wirtschaft die Kontrolle und Beherrschung sämtlicher Lebensbereiche erstrebt. 

Zu den innovativen Besonderheiten zählt die Identifizierung „objektiver Feinde“, die der Entwicklung hinderlich und deshalb zu eliminieren sind. Durch Überwachung, Organisation, Sanktionsdrohung, durch Gewalt bis zum Massenterror werden die Menschen veranlaßt, sich so zu verhalten, als entsprächen die Maßnahmen des Staates ihren natürlichen Bedürfnissen und Wünschen.

Ein Netzwerk beansprucht das Machtmonopol

Dieser „harte“ Totalitarismus und die ihm zugrundeliegenden „Großen Erzählungen“ – der Kommunismus und der Nationalsozialismus – sind obsolet. Die neue Erzählung müßte als ein pluralistisches Angebot auf den Plan treten; sie müßte hinreichend allgemein und flexibel sein, um unvorhergesehene Entwicklungen und Ereignisse zu absorbieren, anstatt von ihnen in Frage gestellt zu werden. Ein Neototalitarismus, der sich auf sie stützt, verhielte sich zu den Diktaturen von Stalin, Hitler und Mao wie Huxleys „Schöne neue Welt“ zu Orwells „1984“.

Der Historiker Peter Graf Kielmansegg sah das Totalitarismus-Problem mit den Umbrüchen von 1989 keineswegs als erledigt an. Er plädierte für eine aktualisierte Definition, die den modernen Gesellschaften gerecht wird und die Möglichkeit einer pluralistischen Auffächerung totalitärer Herrschaft berücksichtigt. Totalitär bedeutet für ihn, „die extreme Mobilisierung einer Gesellschaft für einen bestimmten Zweck“ zu erzwingen, „wobei die Zwecke durchaus unterschiedlicher Natur sein können“. Der moderne Totalitarismus sei durch drei Merkmale gekennzeichnet: durch die Monopolisierung von Entscheidungsmacht, die prinzipiell unbegrenzte Reichweite der Entscheidungen des politischen Systems sowie die prinzipiell unbeschränkte Freiheit, Sanktionen zu verhängen.

In dieser Perspektive kann der intensivierte „Kampf gegen Rechts“ und für „Weltoffenheit“ als Abfolge von Mobilisierungsschüben zugunsten der grenzenlosen „Eine Welt“-Ordnung interpretiert werden.

Das Führungszentrum verfügt über das Machtmonopol, ohne jedoch in allen Einzelfragen auf seiner Entscheidungsmacht zu bestehen. Das würde nur zur Selbstblockade und endlich zum Kontrollverlust über die flottierenden sozialen Energien führen. Ausschlaggebend ist, daß das Zentrum potentiell jede Entscheidung  an sich ziehen oder revidieren kann. 

Als „Zentrum“ hat man sich heute statt einer straffen Hierarchie ein Netzwerk aus Institutionen, Gremien und Organisationen vorzustellen, dessen innere und äußere Konfiguration sich in ständiger Bewegung befindet. Zum Zentrum zählen die oberen Etagen der Staatsmacht, die Vertreter großer Banken, Konzerne, Medienunternehmen, Stiftungen, transnationale Lobby- und Nichtregierungsorganisationen. Es ist offen für äußere Einflüsse, etwa für Expertenrat, ohne deswegen sein Entscheidungsmonopol zur Disposition zu stellen.

Das Parlament, die konkurrierenden Parteien und die formal unabhängigen Medien haben nur instrumentellen Charakter und gehören zur erwähnten Kulisse. Ihre untergeordnete Stellung zeigt sich beispielhaft daran, daß in den Fragen der Einwanderung, der schleichenden Souveränitätsübertragung nach Brüssel oder der Euro-Rettung aus ihren Reihen kein prinzipieller Widerspruch formuliert wird. Die Wahlprozeduren neutralisieren lediglich die spontanen politischen Energien, die sich gegen das Zentrum wenden könnten.

Zahlreiche auf der Mikroebene getroffene Entscheidungen sind darauf gerichtet, eine „demokratische Sklavenmentalität“ (Kenneth Minogue) heranzuzüchten. Immer kleinteiligere Normierungen: Antidiskriminierung, Genderpolitik, politisch korrekte Sprache, Quotenregelungen und so weiter unterwerfen das öffentliche und private Leben einem regelrechten Tugendterror. Hohe Steuern und Abgaben und politisch forcierter Wertverlust privater Rücklagen nehmen den Bürgern die persönliche Unabhängigkeit und machen sie von den Wohltaten – und dem Wohlwollen! – des Staates abhängig. Die Einwanderung stellt jetzt den sichtbarsten, auf der Makroebene vollzogenen Angriff auf das Lebensumfeld und die persönliche Freiheit der Bürger dar.

Denunziation wird als Tugend gepriesen

Unter den Sanktionsmöglichkeiten, „mit denen das System arbeitet“, ist der Terror nur die äußerste. Wichtig ist „die unbegrenzte Verfügungsgewalt über die Gesamtheit der Lebenschancen des Einzelnen diesseits des blanken Terrors, über Bildungschancen und Berufschancen, über die Chancen der Befriedigung materieller Bedürfnisse und Kommunikationschancen “ (Peter Graf Kielmansegg). Tatsächlich arbeiten Medien, politische Institutionen, der Inlandsgeheimdienst und sogenannte zivilgesellschaftliche Kräfte eng zusammen, um tatsächliche oder vermutete Dissidenten beruflich, ökonomisch und sozial zu vernichten und psychisch zu zermürben. Die Spitzel- und Denunziationspraktiken finden in aller Öffentlichkeit statt und werden als staatsbürgerliche Tugend angepriesen. Einige Ärzte weigern sich bereits, Patienten zu behandeln, bei denen sie unliebsame Gesinnung vermuten. Und wenn heute den „Rechten“ – dem Feind  – öffentliche Räume und Hotelzimmer gekündigt werden können, warum morgen nicht auch ihre Wohnungen?

Die Verfügungsgewalt ist noch nicht unbegrenzt, doch ihre Grenzen werden permanent ausgeweitet. Die Aktivitäten von Justizminister Heiko Maas sprechen eine deutliche Sprache. Der Direktor des Instituts für Zeitgeschichte, Andreas Wirsching, forderte im vergangenen Jahr, gegenüber Andersdenkenden keinen „Rechtsformalismus“ mehr gelten zu lassen, sondern die „Instrumente, die es ja gibt, der wehrhaften Demokratie“, anzuwenden. Eine Gesellschaft, die fähig ist, die Abschaffung von Freiheits- und Abwehrrechten als deren Verteidigung zu feiern, wäre auch in der Lage, die eigene Unterwerfung unter den politischen Islam – in Verbindung vielleicht mit einer kriminellen Clanherrschaft – als die zeitgemäße Weiterentwicklung des Demokratiebegriffs anzupreisen.

Erstaunlich ist der Gleichmut, mit dem der deutsche Demos einer Politik beiwohnt, an deren Ende seine politische Entthronung und die Herabstufung der Deutschen zur Minderheit im eigenen Land steht. Die Vorstellung vom Demos als der Versammlung mündiger Bürger, die darüber diskutieren – oder eine aus ihrer Mitte hervorgegangene Elite darüber debattieren lassen –, wie die Probleme gelöst werden, und anschließend entscheiden, welche Partei die persönlichen Interessen mit dem Gemeinwohl am besten in Übereinstimmung bringt, ist ein nettes Ideal, aber illusorisch. Es setzt Selbstzurücknahme, Verantwortungsgefühl, Abstraktionsvermögen und vorausschauendes Denken voraus. Die Massendemokratien hingegen verlangen den sofortigen und bedingungslosen Massengenuß. Scheint der nur gesichert zu sein, ist auch die Loyalität zu einer Politik gesichert, die schleichend zur Katastrophe führt.

Der Totalitarismus, zumal in seiner milden Form, ist kein simpler Unterdrückungsmechanismus, er verschafft auch Entlastung von Unsicherheit und Verantwortung. Nun sorgt die Flutung mit Dritte-Welt-Einwanderern für unabsehbare Belastungen und Risiken. Doch ist die politische Vorstellungskraft durch die „Sklavenmentalität“ bereits so weit reduziert, daß eine Mehrheit sich die Umkehrung dieser Politik nicht mehr vorstellen kann und auf das Prinzip Hoffnung setzt. Zweitens gibt es noch viele Möglichkeiten, den importierten Zumutungen auszuweichen, so daß sie als ein Fernrisiko erscheinen, während die Stigmatisierung, die dem Widerspruch und Protest umgehend folgen würde, ein unausweichliches Nahrisiko bildet. 

So wird der Verlust demokratischer Teilhabe, falls er denn überhaupt wahrgenommen wird, als nachrangig angesehen und arbeitet die Mehrheit an der eigenen, neotalitären Entmündigung mit.