© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 26/17 / 23. Juni 2017

Der Parteiräson gedient
Zeitgeschichte: Die von Helmut Kohl versprochene „geistig-moralische Wende“ ist ausgeblieben
Konrad Adam

Den 25. Oktober des Jahres 1996 hat die eine oder andere Zeitung zum Anlaß genommen, den Mann zu würdigen, der von diesem Tag an längere Zeit Kanzler war als Konrad Adenauer. Die Stimmen der Anerkennung, ja der Bewunderung überwogen, selbst eingefleischte Gegner äußerten mehr oder weniger widerwillig ihren Respekt vor Helmut Kohl. Seine Leistung, die Wiedervereinigung des kriegsbedingt geteilten Landes und dessen Verankerung im Westen, stand schon damals fest. Otto Graf Lambsdorff, der Kohl aus der Zusammenarbeit in der Regierung gut kannte, sprach für viele, als er sagte, fast alle hätten ihn unterschätzt.
 
Von der „geistig-moralischen Wende“, die Kohl vor seinem Amtsantritt in Aussicht gestellt hatte (und deren Anteil an seinem Wahlsieg im Frühjahr 1983 nicht unterschätzt werden sollte), war damals keine Rede mehr. Daß aus ihr nichts geworden war, ist von den einen bedauert, von den anderen lächelnd hingenommen oder triumphierend festgestellt worden; einig waren sich die meisten darin, daß sich Kohl und seine Partei mit dem Versprechen, die wichtigste Hinterlassenschaft der 68er, den innenpolitischen Klimawandel, rückgängig zu machen, übernommen hatten. Kohl hatte dem Zeitgeist nichts Überzeugendes entgegenzusetzen, die CDU schon gar nicht.

Das fiel zunächst nicht weiter auf, weil Kohl eine Aufgabe gelöst hatte, an der sein Amtsvorgänger Helmut Schmidt gescheitert war. Gegen erhebliche Widerstände hatte er die Nachrüstung durchgesetzt und in Mutlangen die Pershing-II-Raketen aufgestellt, die von der Friedensbewegung mit allen möglichen, auch unfriedlichen Mitteln bekämpft worden waren: ein Sieg, den ihm seine Gegner nie verziehen haben. Sie rächten sich, indem sie den Kampf, den sie politisch verloren hatten, an der semantischen Front wieder aufnahmen und eine Dauerdebatte über den Unterschied von Legalität und Legitimität, Gewalt und Gegengewalt, Aufstand und Widerstand lostraten.

Sie gingen von vornherein aufs Ganze. Da sie im Ernst kaum bestreiten konnten, daß Kohl die Mehrheit hinter sich hatte, griffen sie die Mehrheitsregel an. Mehrheiten, so ihr Dogma, wären nur dann zu respektieren, wenn es sich nicht um letzte Dinge handele, es nicht „ums Ganze“ gehe. Wann es ums Ganze ging, was letzte und was vorletzte Dinge waren, das zu entscheiden sollte aber nicht in der Hand von vielen liegen. Das blieb den wenigen vorbehalten, einer Elite, die über einen privilegierten Zugang zur Wahrheit verfügte.

Einer der Wortführer in der Nachrüstungsdebatte, der Habermas-Enkelschüler Bernd Guggenberger, brachte die Lehre auf den Punkt, als er der bequemen Gedankenlosigkeit der vielen die unbequeme Nachdenklichkeit der wenigen gegenüberstellte. Um dann „die tieferen Einsichten, die größere Sensibilität, den besseren Sachverstand, die höhere Verantwortung“ umstandslos für sich und seine Freunde zu reklamieren: ein Angriff auf die Grundregel der Demokratie, der als „rechts“ gebrandmarkt worden wäre, wenn er nicht von links gekommen wäre.

Wenig später folgte der Historikerstreit. Er hat die Kampflinien der Gegenwart in die Vergangenheit verlängert und die Deutung der Geschichte den Imperativen der Tagespolitik ausgeliefert. Kohls Versuch, mit der Errichtung eines Historischen Museums den Deutschen ein gelasseneres Verhältnis zu ihrer Geschichte zu vermitteln, brachte ihm umgehend den Vorwurf ein, das Dritte Reich entsorgen zu wollen. Womit sich der „herrschaftsfreie Diskurs“ als das erwies, als was ihn Habermas und seine Leute konzipiert hatten, als ein hochherrschaftliches Unternehmen, das nicht mit Argumenten, sondern mit Drohungen und Unterstellungen, mit Abmahnungen und Ausgrenzungen arbeitete.

Der Berliner Historiker Ernst Nolte war der erste, der zu hören bekam, man könne nicht mehr mit ihm, sondern nur noch über ihn reden. Der sogenannten Viererbande, die ihm in seinem Streit mit den Platzhaltern der Habermas-Industrie zur Seite gestanden hatte, ist es ähnlich ergangen, sie wurden ausgeschlossen. Jüngstes Opfer dieser feuilletonistisch betriebenen Ketzerverfolgung ist Rolf Peter Sieferle geworden, weitere werden folgen. Wer von Wahrheit und Wahrhaftigkeit andere Vorstellungen hat als die Mitglieder jener elitären Diskursgemeinschaft, hat seine kommunikativen Bürgerrechte verwirkt. Er darf nicht nur, er muß zum Schweigen gebracht werden.
 
Jeder Versuch, der den Anspruch der Wissenschaft, der Wahrheit zu dienen, auf die Politik überträgt, landet früher oder später bei der Meinungsdiktatur. Denn eine Politik, die sich anmaßt, statt vorläufiger Antworten letzte Wahrheiten zu verkünden, verkommt so oder so zur Tyrannei, gleichgültig, ob sie ihre Wahrheiten im Namen der Mehrheit oder irgendwelcher Minderheiten vorträgt, die tiefere Einsichten, höhere Sensibilitäten oder ähnliches zu besitzen glauben. Es ist ja schon der Anspruch, der die Tyrannei ausmacht, und dieser Anspruch wird von den Liebhabern diskursiv erzeugter Wahrheiten ebenso rabiat erhoben wie von den Mitgliedern eines Politbüros. Beide vertreten die totalitäre Variante der Demokratie.
 
Mit seinem Verzicht auf geistig-moralische Führung hat Helmut Kohl die Attraktivität dieser Variante unterschätzt. Er war ein Machtmensch, der die Macht allerdings nicht in den Institutionen der Verfassung suchte, sondern im Schoß der Partei. Seine Verständnislosigkeit gegenüber der Forderung, die Namen der Spender preiszugeben, die ihn großzügig alimentiert hatten, war völlig echt. Das Ehrenwort und die Interessen der Partei standen ihm höher als alles andere, höher als Recht und Gesetz. Er nannte die Partei seine Heimat, Quelle und Zentrum der Macht, und hatte damit auf seine Art ja auch recht. Für die Träger der soft power, die Intellektuellen, hatte er wenig Verständnis, noch weniger Sympathie. Er konnte und wollte die Macht ausüben; sie darzustellen oder zu begründen, lag ihm nicht.

Deshalb hat er die Wende zwar verkündet, aber nicht geschafft: ein Fehler, dessen Folgen er selbst noch zu spüren bekommen hat, als seine Nachfolgerin sich daranmachte, den Patriarchen abzuservieren. Wie Kohl hat Merkel kein Verhältnis zu Recht und Gesetz, Vertrag und Verfassung, wie er erkennt sie nicht im Regierungsamt, sondern im Parteivorsitz das Zentrum ihrer Macht. Anders als Kohl wußte sie aber auch, daß da noch ein Rest blieb, und den besorgte sie sich dort, wo sie ihn fand, bei den Legionären des Zeitgeistes, den Roten, Grünen oder Linken. Nachdem sie sich beim „Aufstand der Anständigen“ mit ihnen verbündet hatte, war es riskant, das programmatische Profil der CDU zu schärfen, hätte es doch das letzte Band zerreißen können, das die Partei  zusammenhielt, die Aussicht auf den Machtgenuß.

Seither versucht sich die Partei in der Kunst einer Verbundpolitik: einem Pragmatismus ohne Alternativen, einer Regierung ohne Opposition. Die Voraussetzungen dafür hat Kohl geschaffen, indem er die Staatsräson zugunsten der Parteiräson zurücktreten ließ. Das Programm stammt aber von Frau Merkel. Doch auch ihre Bäume werden nicht in den Himmel wachsen, genausowenig wie die von Helmut Kohl.