© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Meisterin der Kehrtwenden
Deutschlands zwölf verlorene Jahre unter Angela Merkel: Philip Plickerts Sammelband unternimmt eine umfassende kritische Bilanz
Michael Paulwitz

Die simple Botschaft lautete: „Sie kennen mich!“ Vor vier Jahren reichte dies Angela Merkel, um als Kanzlerin wiedergewählt zu werden. Danach sollten die Deutschen sie erst so richtig kennenlernen. Die Öffnung der Schleusen für millionenfache illegale Asyl-Einwanderung im Spätsommer 2015 war der weitreichendste und folgenschwerste aller opportunistischen Alleingänge, Volten und Kehrtwenden, die Merkel in den zwölf Jahren ihrer Kanzlerschaft vollzogen hat.

Der FAZ-Wirtschaftsredakteur Philip Plickert hat mit „Merkel. Eine kritische Bilanz“ eine umfassende und ernüchternde Bestandsaufnahme des Versagens einer Kanzlerin vorgelegt, deren planloses Agieren in Energiewende, Euro- und Einwanderungskrise Deutschland ein ganzes Bündel schwerer Hypotheken aufgebürdet hat. Aus den Beiträgen der von Plickert versammelten 22 Autoren aus dem In- und Ausland – als „irritierte Liberalkonservative“ charakterisiert sie der Herausgeber – ergibt sich das Bild einer Politikerin, die ihrem persönlichen Machtstreben das Wohl der eigenen Partei und des ganzen Landes bedenkenlos unterordnet. Die Selbstinszenierung als unauffällige Pfarrerstochter ist ebenso Maske wie der Mythos von der rationalen Physikerin, die alles „vom Ende her denkt“. Das Trümmerfeld, das sie hinterläßt, wird noch Generationen beschäftigen.

Die Identitätskrise der entkernten CDU

Ralf Georg Reuth führt den Merkelschen Opportunismus auf ihre Sozialisierung als von IMs umgebener privilegierter DDR-Reisekader und „Reformkommunistin“ zurück, die sie für ihre CDU-Karriere über Nacht verleugnen mußte. In der Union, schreibt der Kommunikationswisssenschaftler Norbert Bolz, blieb sie stets ein Fremdkörper, der mit deren bürgerlich-konservativer Tradition nichts anfangen konnte. Aus Machtkalkül wurde sie von der „neoliberalen“ Vorkämpferin zur „Stiefmutter ihrer Partei“ (Werner Patzelt), die die CDU programmatisch entkernte und zum Wahlverein degradierte, jegliche offene Diskussion zum Schweigen brachte und Kritiker ihrer einsamen Entscheidungen ebenso wie innerparteiliche Gegner geräuschlos niederhielt oder an die Wand drängte. Der Kult der Alternativlosigkeit etablierte ein „neues Biedermeier“, das paradoxerweise viele als durchaus angenehm empfinden, urteilt Bolz.

Sozialdemokratisierung und Vergrünung haben die CDU in eine Identitätskrise gestürzt und Wert- und Kulturkonservative, ihrerseits keine Lieblinge der Medien, allmählich heimatlos gemacht. Als Nebenwirkung hat sich in dieser „Repräsentationslücke“ (Patzelt) ein Freiraum für die AfD als parteipolitische Alternative geöffnet.

Christliche und insbesondere katholische Wähler wurden in der Ära Merkel zum Ballast, analysiert Wolfgang Ockenfels das „hohle C“ der Union. Mit der „Übernahme von Projekten der Gegenseite“ nimmt Merkel das eigene Lager in Geiselhaft und wurde zum „Liebling linksliberaler Kreise und speziell der Grünen“, meint Daniel Geppert; zugleich habe sie „die Mechanismen einer von Medien und Umfragen bestimmten Demokratie verinnerlicht wie kaum jemand sonst“.

Das Willkommens-Desaster

„Angela Merkel hat samt Kabinett in der operativen Flüchtlingspolitik fast alles falsch gemacht, was falsch zu machen war“, stellt Michael Wolffsohn fest, der der Kanzlerin immerhin noch einen „humanitären Imperativ“ zugute hält. Merkel und die „Getriebenen“ haben aus Medien-Opportunismus frühe Warnungen ignoriert, mögliche Grenzsicherung und Kontrollen unterlassen und Milliarden in Hilfsindustrien gepumpt. Kritiker landeten in der rechten, „populistischen“ Ecke. Das deutsche Volk, schreibt Cora Stephan, war in einer existentiellen Frage ohne Vertreter.

Schon lange vor dem Willkommens-Putsch von 2015 hat Merkel jede sinnvolle Diskussion über Steuerung und Kontrolle der Einwanderung verhindert und politische Sprachlosigkeit verordnet, schreibt Thilo Sarrazin in seinen „Anmerkungen eines Nicht-Hilfreichen“. Die Einstellung der Kanzlerin in Migrationsfragen entspreche der universalistischen Weltsicht des tonangebenden Establishments und Medien-Mainstreams. Aus der Asyl-Einwanderungswelle seit 2015 errechnet Sarrazin eine finanzielle Zukunftsbelastung von einer Billion Euro. Familiennachzug und weitere Zuwanderung nach 2018 sind dabei noch nicht einbezogen. Noch schwerwiegender seien die sozialen Kosten und die langfristigen Risiken einer millionenfachen Einwanderung aus islamischen Ländern.

Necla Kelek wirft der deutschen Politik unter Merkel Islam-Verharmlosung vor; sie habe den Islamverbänden und der Türkei gestattet, in Deutschland Islampolitik zu betreiben. „Das Märchen von der Integration ist nach zwölf verlorenen Jahren unter der Merkel-Regierung zu Ende“, meint Kelek. Integration sei „das Fake-Wort des Jahrzehnts, die einzige Lüge, für die es eine eigene Beauftragte der Bundesregierung gibt“, die faktisch die Spaltung des Landes betreibe. Deutschland laufe Gefahr, zur „türkischen Provinz“ zu werden.





Deutschlands energiepolitischer Sonderweg

Die „ungebremste Sozialdemokratisierung“ der CDU hat wegen des Erpressungspotentials einer rot-rot-grünen Mehrheit im Bundestag in der letzten Legislaturperiode mit Mindestlohn, Frauenquote, Rente mit 63, Mietpreisbremse, Lohn­entgeltgleichheitsgesetz ein atemberaubendes Tempo entwickelt. Der marktwirtschaftliche Kompaß ist der CDU in der Ära Merkel abhanden gekommen, meint der Ludwig-Erhard-Experte Daniel Koerfer, sie selbst hatte ihn wohl nie.

Nichts zeigt das schlagender als die Ad-hoc-Entscheidung zum Ausstieg aus der Kernenergie und der radikalen „Energiewende“, die nicht nur Milliarden an Börsenwerten der Energieversorger vernichtete; die Kosten für Deutschlands „energiepolitischen Sonderweg“ (der Ökonom Justus Haucap) des teuren, ungebremsten Ausbaus „erneuerbarer“ Energien

werden in den nächsten zehn Jahren auf insgesamt 520 Milliarden Euro steigen, die die Bürger über höhere Energie-, Dienstleistungs- und Warenpreise zu tragen haben. Dabei werde wegen des europäischen Emissionshandels mit den Milliarden-Förderungen bisher keine einzige Tonne CO2 in Deutschland oder der EU eingespart. Dafür verabschiedet sich als Folge dieses „teuren, klimapolitisch nutzlosen Irrwegs“ schon jetzt die energieintensive Industrie aus Deutschland.

Roland Tichy erinnert die Merkelsche Energie-Planwirtschaft und die sich an Planzahlen berauschende Förderung der Elektromobilität an Stalins Chefplaner Lyssenko – die „Zielverfehlung, die aus der Mißachtung grundlegender physikalischer Gegebenheiten rührt, und der Ersatz von Machbarkeit durch Ideologieproduktion“ lasse nur diesen Schluß zu.





Sozialdemokratisierung der Familienpolitik

Augenfällig wird das nicht zuletzt in der Beerdigung des eigenständigen familienpolitischen Profils der CDU. Ihre Geringschätzung von Familien- und Erziehungsarbeit hatte Merkel schon als Frauen- und Familienministerin bekundet, erinnert die Publizistin Birgit Kelle. Selbst habe sie sich für dieses Politikfeld nie interessiert, die Möglichkeiten einer staatlich lenkenden Familienpolitik seien ihr aus DDR-Erfahrung zweifellos bewußt. Die Sozialdemokratisierung der Familienpolitik ließ Merkel von Leuten ihres Vertrauens erledigen; von Ursula von der Leyen (CDU) zu Manuela Schwesig (SPD) führt ein gerader Weg.

Merkel selbst beschweigt in der ihr eigenen Art den gesellschaftlichen Umbau, der mit Krippenoffensive, neuem Unterhaltsrecht und Elterngeld das Leitbild der berufstätigen Frau und der Verlagerung der Erziehung aus den Familien in staatliche Institutionen vorangetrieben hat. Zugleich waren Eltern und Mütter einer regelrechten Diffamierungskampagne insbesondere in der Betreuungsgeld-Debatte ausgesetzt. Familienpolitik in der Ära Merkel ist nach Ansicht Kelles im Grunde Arbeitsmarktpolitik, die wegen der einseitigen Bevorzugung von Kinderlosen und Erziehungsverweigerern auch ökonomisch fragwürdig ist. Die von Merkel beim „Frauengipfel“ im Kanzleramt 2013 zugrundegelegte Maxime, Frauen, die keine „Karriere“ machten, verschwendeten ihr Potential, bedeutet tatsächlich eine Vergeudung weiblicher Potentiale.





Isoliert in Europa

Merkels „hippiehaftes“ (Anthony Glees) Hinwegsetzen über Common Sense und Regeln in der Asylkrise dürfte auch beim Votum für den britischen EU-Ausstieg den Ausschlag gegeben haben. Während die Kanzlerin die Briten, für Deutschland ein wichtiger marktwirtschaftlicher Partner, achselzuckend ziehen ließ, verwendete sie enorme Kraft und viel deutsches Geld darauf, Griechenland im Euro zu halten – fragwürdige Prioritäten, meint David Marsh.

Über das CDU-Versprechen von 1999, Deutschland müsse nicht für die Schulden anderer geradestehen, könne man heute nur lachen, schreibt Philip Plickert in seinem Vorwort. Das Tor zur europäischen Transferunion ist weit aufgestoßen. Das Verlust- und Erpressungspotential für Deutschland durch die Target-Salden, die mehr als 850 Milliarden Euro betragen, ist die Hauptklammer des Euro geworden; auf der Insel wundert man sich, daß darüber im Bundestag nie debattiert wird. Merkel ist keine „Eiserne Lady“, sondern eine „Anti-Thatcher“-Figur.

Der scheinbar gestiegene Einfluß Deutschlands in Europa beruht vor allem auf der Übernahme des Löwenanteils der Kredite und Haftungszusagen. Beliebt macht die Rolle als Geldgeber nicht. Mit der Griechenlandkrise begann die Entfremdung Deutschlands von Osteuropa, hält Boris Kálnoky fest; die „Willkommenspolitik“ wurde für die Osteuropäer ein Weckruf. Nicht nur die Visegrád-Staaten, auch Österreich geht zunehmend auf Distanz. Merkels außenpolitische Bilanz ist die Isolation Deutschlands in Europa.





Zahnloser Tiger Bundeswehr

„Streitkräfte müssen einsatzbereit sein, sonst sind sie das Geld nicht wert, das man in sie steckt“, hält Erich Vad zu Recht fest. Unter Unions-Verteidigungsministern wurde die Bundeswehr in zwölf Jahren Merkel regelrecht verzwergt. Nach phantasielosen Kürzungen durch alle Bereiche verfügt die Bundesmarine über gerade einmal so viele Schiffe, wie die Niederlande im Einsatz haben, und das Heer hat mit noch 200 von einst 2.000 Kampfpanzern ungefähr so viele wie die Schweiz. Daß nur ein Bruchteil des Geräts in Heer, Luftwaffe und Marine einsatzbereit ist, liegt neben dem historischen Tiefstand bei den Verteidigungsausgaben auch an Fehlplanung und Mißwirtschaft.

Merkel schwimmt auch hier mit dem Zeitgeist: „fehlendes strategisches Denken bei unseren Eliten, kaum noch vorhandene Wehrbereitschaft und eher Toleranz als Akzeptanz der Bundeswehr in der Gesellschaft“. Die hastige Aussetzung der Wehrpflicht zollte der Stimmung eines Landes Tribut, das „jeder Wehrhaftigkeit längst abgeschworen“ hat. Angela Merkel stecke wie jeder deutsche Regierungschef in der Zwickmühle der pazifistischen Leitkultur und einer strukturell sehr eingeschränkten Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Sicherheitspolitik, konzediert Vad; doch in all ihren Regierungsjahren habe Merkel an diesem Zustand auch nichts geändert. Selbst wenn die deutsche Bundeskanzlerin die von der New York Times gepriesene „letzte Verteidigerin der freien Welt“ sein wollte, könnte sie diese Rolle schon mangels Machtmitteln gar nicht ausfüllen.