© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 27/17 / 30. Juni 2017

Dorn im Auge
Christian Dorn

Du siehst besser nach vorn“ – noch am Morgen dachte ich daran, bei Gunter Gabriel nachzufragen, ob er inzwischen Muße fand, den Song „Nach vorn“ anzuhören im Hinblick auf eine mögliche Cover-Fassung, da erreicht mich am Nachmittag die Nachricht seines Todes. Und ich denk, die Liedzeilen zitierend: „Und was du hast, das hast du, was du kriegst, das weißt du nicht, wer zuletzt lacht, lacht am besten, vorn spielt die Musik.“ Im Café der „Westzone“ erklingt der wunderbare Beat des Songs „You really got me“. Im Sinne popmusikalischer Bildung frage ich den jungen Kerl am Tresen, ob er die Kinks kenne – er hat natürlich noch nie von der Band gehört, und gibt mir allen Ernstes zurück: „Kennst du denn One Direction?“


Auch die Energiewende ist eine Sackgasse. Während ich im Café der „Ostzone“ in der „Qualitätspresse“ die Schlagzeilen der neuesten Direktiven zur Klimarettung überfliege, geht ein Mann mit Jutebeutel vorbei und offeriert dem Publikum: „Ökologische Märchen?!“ Er erntet keine Antwort. Ebenfalls ohne Reaktion, wie das Kaninchen vor der Schlange, verharrt das Publikum im Café der „Westzone“, als dort ein Schwarzer vorbeiläuft, den – horribile dictu – wohl der Blick eines Gastes gestreift hat. In aggressiver Manier schreit er die Cafébesucher an als „Fucking white people“, „German racists“ und „Shit men“. Womöglich war dieses kollektive Schweigen – das Ausbleiben von „Haßkriminalität“ – ein Akt unterlassener Hilfeleistung. Gilt doch inzwischen auch in der Hauptstadt die Regel, der zufolge abgelehnte Asylbewerber einen dauerhaften Aufenthaltsstatus erhalten, wenn sie vor ihrer Abschiebung Opfer einer fremdenfeindlichen Straftat geworden sind. Ach, wenn Blicke töten könnten! Dann wäre hier wegen versuchten Mordes der Tatbestand von „einem gewissen Gewicht“ erfüllt, der für die Gewährung des Bleiberechts Voraussetzung ist.


Dies erinnert mich an mein wiederholtes Versagen vor der zivilgesellschaftlichen Losung „Refugees welcome“: Neben mir in der S-Bahn sitzt eine junge Mutter, die von ihrem Mobiltelefon einen Arzt anruft. Rechts von ihr ein unbeteiligt wirkender Afrikaner, vor sich den Kinderwagen mit dem gemeinsamen Kind. Der Vater ihres Kindes aus Burkina Faso habe einen Abschiebungsbescheid erhalten. Ob er, der Arzt, dem Vater ihres Kindes nicht einfach eine „Reiseunfähigkeitsbescheinigung“ ausstellen könne, schließlich leide dieser an zahllosen Traumata und Schlafstörungen. Der Arzt weist sie unerbittlich ab. Ich steige aus.