© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Die Presse muß draußen bleiben
Migration: Unter Ausschluß der Öffentlichkeit werden die illegalen Migranten in Europa empfangen
Hinrich Rohbohm

Es ist noch früher Morgen, als das Schiff der Guardia Costiera in den Hafen von Catania auf Sizilien einläuft. An Deck befinden sich etwa 700 Passagiere. Migranten, die von Libyen auf kaum seetauglichen Booten versuchten, nach Europa zu gelangen. Schwarzafrikaner. Fast ausschließlich Männer. Sie haben sich unter der grünen Plane versammelt, die die Einsatzkräfte der Küstenwache über dem Deck aufgespannt haben, um den im Meer aufgelesenen Schutz vor der brennend heißen Sonne zu geben.

In Gruppen kommen sie vom Schiff, werden von Mitarbeitern des Roten Kreuzes in Empfang genommen. Gesundheitsprüfung. Anschließend behördliche Formalitäten unter den schattenspendenden Pavillons, die die Italiener für die Ankommenden aufgebaut haben.

Wir wollen zu ihnen. Wollen von ihnen Näheres über die Umstände ihres Seetransports von Afrika nach Europa erfahren. Wollen wissen, wann, wo und wie sie in See stachen, wann und wo sie von Schiffen aufgenommen wurden. 

Ein aussichtsloses Vorhaben. Die Polizei hat die Anlegestelle abgeriegelt. Niemand ohne ausdrückliche Genehmigung darf zu den Migranten durch. Auch nicht Journalisten. Selbst die sizilianische Lokalpresse muß draußen bleiben. Ein fast entschuldigender Blick des Uniformierten und der bestimmende, keinen Widerspruch duldende Ausspruch „Discontinuità“ – kein Durchgang. 

Dem Gendarm sind seine Zweifel anzumerken. Zweifel darüber, ob es wirklich richtig ist, der Öffentlichkeit vorzuenthalten, was sich derzeit nahezu täglich in den Häfen Siziliens abspielt. Vorzuenthalten, daß täglich Schiffe mit Hunderten von Zuwanderern kommen, deren Unterbringung auf der autonomen Insel die Behörden zusehends vor Probleme stellt.

Hochsicherheitstrakt in der Einöde

Der Polizist macht eine leichte Kopfbewegung zu einer kaum auffälligen Treppe an der Kaimauer, keine zehn Meter weit von ihm entfernt. Eine mit verrostetem, wackligem Geländer, an dem man sich besser nicht abstützt. „Die können Sie benutzen. Das ist erlaubt“, nuschelt er leise. Die Treppe bringt uns auf die Kaimauer. Ein schmaler Schotterweg führt in Richtung des Schiffes und der von Bord gehenden Migranten. 

Als wir uns dem Geschehen nähern, taucht plötzlich ein Zivilfahrzeug auf der gegenüberliegenden Straße auf. In dem Wagen sitzen Uniformierte der Küstenwache. Sie fordern uns auf, nicht weiterzugehen. Ein Militärjeep fährt dort zusätzlich Patrouille. Wir müssen zurück, weiter weg vom Schiff und seinen zugewanderten Passagieren.

„Ihr habt Glück, oftmals kommt man noch nicht einmal auf das Hafengelände“, sagt Andrea Di Grazia, ein Fotojournalist der italienischen Nachrichtenagentur La Presse. Er bestätigt: Die Migranten werden auf die verschiedenen Häfen Süditaliens verteilt. Catania, Syrakus, Augusta, Pozzallo, Palermo oder Messina. Das Ritual sei stets das gleiche. Wenn die Schiffe anlegen, werde das jeweilige Hafengelände mal mehr, mal weniger stark abgeriegelt. „Die Migranten werden dann mit Bussen in Camps gebracht, die weit außerhalb der Städte liegen.“

Das größte dieser Camps befindet sich weit im Landesinnern Siziliens, gut 60 Kilometer von Catania entfernt. Über 3.000 Illegale Migranten sind dort untergebracht. Der nächste Ort Mineo – ein auf einem Berg errichtetes Dorf – befindet sich gut zehn Kilometer entfernt. Nur ein eher unauffällig angebrachtes Schild verweist auf den Weg zum Camp. Ein Weg, der durch weitläufige Orangenplantagen führt. 

Am menschenleeren Horizont schlängeln sich in der untergehenden Abendsonne massive Gebirgszüge entlang, die den Eindruck vermitteln, als befände man sich im Wilden Westen. Doch vor dem Camp stehen Soldaten mit Maschinenpistolen und Panzerfahrzeugen. Die Anlage ist mit einem drei Meter hohen Zaun gesichert, Wachen sind am Eingang postiert. Den Zutritt ins Camp gestatten sie uns nicht.

„Manchmal machen sie dort Führungen für Journalistengruppen. Aber nur nach vorheriger Anmeldung. Das sind dann nichts weiter als Showveranstaltungen“, erzählt Di Grazia der JF. Er spricht von Drogenhandel und Prostitution, die es in dem Camp gebe. Und davon, daß ein Besuch dort nachts dringend vermieden werden sollte. Doch dafür ist es für uns bereits zu spät. Die Sonne ist schon hinter den Gebirgszügen verschwunden. Grillen zirpen in der stillen Einöde. Die Kontaktaufnahme mit Zuwanderern ist auch hier nicht möglich. Als wir uns auf den Rückweg machen, springt plötzlich ein Schwarzafrikaner unvermittelt aus einer der Orangenplantagen hervor auf die Straße. Soldaten, mit Taschenlampen und Maschinenpistolen ausgerüstet, sind wenige Meter von ihm entfernt im Einsatz, scheinen nach irgend etwas oder irgendwem zu suchen. Eine Szenerie, die nur erahnen läßt, was sich in der Dunkelheit zwischen den dichtgestaffelten Zitrusgewächsen abspielen mag.

„Refugee-Camps“ sind vollkommen überlastet

„Das Lager ist vollkommen überfüllt, und die hygienischen Zustände sollen nicht die besten sein“, gibt Andrea Di Grazia seinen Informationsstand weiter. Tatsächlich werden die Migranten längst auf mehrere dezentrale Standorte der Insel verteilt. Offenbar, weil die Kapazitäten in Mineo nicht mehr ausreichen.

Unterdessen sind am Hafen mehrere Busse angekommen. Sie stehen für den Abtransport in die Migrantencamps bereit. Einem davon folgen wir. Zunächst in Richtung Palermo, dann ins Gebirge im Norden der Insel. Auch diese Gegend ist nur dünn besiedelt. Weit außerhalb jeglicher Zivilisation, inmitten von Tannenwäldern, die eher an mitteleuropäische als an mediterrane Klimazonen erinnern.

Der Bus steuert ein einsames Gebäude an, das früher einmal als Hotel gedient haben mag. Kontakte mit der einheimischen Bevölkerung dürften hier weitestgehend ausgeschlossen sein.

Später ist im Hafen von Catania ein weiterer Bus ist abfahrbereit. Auch ihm folgen wir. Diesmal geht es nicht ins Landesinnere, sondern entlang der Küste Richtung Messina. Vorbei an Taormina, dem Ort, an dem noch wenige Monate zuvor der G7-Gipfel über die Migrationskrise beraten hatte. Plötzlich wird es kritisch. An einer Mautstelle kann der Reisebus frei passieren. Wir müssen zahlen. Wertvolle Sekunden vergehen, vom Bus ist nichts mehr zu sehen. Könnte es sein, daß die Unterbringungsmöglichkeiten auf Sizilien erschöpft sind? In diesem Fall wäre eine Fahrt zum Fährhafen naheliegend. Tatsächlich taucht der Bus auf dem Weg zur Fähre wieder vor uns auf. Nun besteht Gewißheit: Die Zuwanderer werden bereits aufs europäische Festland gebracht.

Nicht weiter verwunderlich ist es daher, daß das Straßenbild in Catanias Innenstadt von nur wenigen Immigranten geprägt ist. „Manchmal sieht man hier schon welche, aber die machen keine Schwierigkeiten“, erzählt Luca, ein Eisverkäufer, der einen Laden im Zentrum der Stadt nahe der Piazza del Duomo betreibt. Natürlich weiß auch er von den sogenannten „Refugee-Camps“. Doch die seien weit weg. „Nur wenige kommen bis hierher in die Stadt.“ Sie sind aus den Augen der Öffentlichkeit verschwunden. Und damit auch aus dem Bewußtsein der Bürger Catanias. „Es gibt kaum Probleme mit den Schwarzen“, bestätigen Einwohner gegenüber der JF. Die Probleme spielen sich in den Lagern, weit entfernt von der Bevölkerung ab.

Was sich im Hafen abspielt, darüber sind die Verantwortlichen zur Verschwiegenheit verpflichtet. In einer Bar unweit des Schiffsanlegers der Küstenwache kehren immer wieder mehrere Frontex-Mitarbeiter ein. Holländer und Portugiesen, aber auch zwei Deutsche, die von der Landespolizei für den Dienst bei Frontex abgestellt sind. Jene Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, die für den Schutz der EU-Außengrenze zuständig ist. 

Reden dürfen auch sie nicht. Einen Hinweis, was sich auf hoher See abspielt, geben sie dennoch. „Stellen Sie sich ein Schiff mit 500 Afrikanern als Passagiere vor. Davon sind 450 männlich.“ Mehr sagt der Frontex-Mann nicht. Er darf nicht mehr sagen und entschuldigt sich dafür. Sein niederländischer Kollege kehrt noch einmal um, nachdem wir uns von ihm bereits verabschiedet hatten. „See and watch“, sagt er nur.

Je mehr kommen, desto mehr wird verdient

„Ich kann darüber nicht offen sprechen. Wenn ich rede riskiere ich, daß man meine Lizenz hier nicht verlängert“, erklärt uns ein Barbesitzer im Hafen von Augusta, einem Stützpunkt der italienischen Marine. Auch hier wurde ein sogenannter Hotspot eingerichtet. Ein Verteilzentrum, in dem Zuwanderer zunächst registriert werden, ehe sie in andere Aufnahmelager kommen. Hohe Mauern und Stacheldraht schirmen das Gelände ab. Ein Zugang zu den Migranten ist auch hier nicht möglich.

Zunehmend wird das Ziel der europäischen Politik klar. Bilder, wie sie 2015 auf dem Balkan zu sehen waren, soll es nicht wieder geben. Keine Migrationsströme über Straßen, kein Zuwanderungsstau an Bahnhöfen und Grenzübergängen. „Eine Situation wie im Sommer 2015 kann, soll und darf sich nicht wiederholen“, hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel auf dem CDU-Bundesparteitag in Essen Ende vorigen Jahres verkündet. In Sizilien wird klar, was damit genau gemeint ist. Die Zuwanderung nach Europa wird weitergehen. Sie soll jedoch deutlich geordneter ablaufen als zuvor. Dezentraler, unauffälliger, geräuschloser.

Zunehmen wird sie dennoch. Allein Ende Juni erreichten innerhalb von 72 Stunden 12.000 Immigranten die italienische Küste. Einige sogenannte Hilfsorganisationen sind mit Schiffen in unmittelbarer Nähe zur Zwölf-Meilen-Zone vor der libyschen Küste unterwegs, warten auf Zuwanderer, die von Schleusern in Schlauch- und Holzbooten über das Mittelmeer geschickt werden. Die Aktionen sind umstritten. 

Kann man noch von Seenotrettung sprechen, wenn Migranten unmittelbar hinter der Zwölf-Meilen-Zone bei guten Witterungsbedingungen von größeren Schiffen aufgenommen und nach Europa gebracht werden? Wenn sie statt zur nächstgelegenen Küste ins viel weitere Italien gefahren werden? Oder beginnt hier bereits die Beihilfe zur Schlepperei? Die libysche Küstenwache spricht von handfesten Beweisen der Zusammenarbeit von Schleppern mit einigen Nichtregierungsorganisationen. Der italienische Oberstaatsanwalt in Catania, Carmelo Zuccaro, hat diesbezüglich bereits Ermittlungen aufgenommen.

„Es ist ein großes Geschäft“, sagt Andrea Di Grazia. „Je mehr Zuwanderer kommen, desto mehr wird verdient.“ Hinter ihm ragt die Silhouette des Ätna empor. Aus Europas höchstem Vulkan war in den vergangenen Tagen Rauch emporgestiegen. „Das ist hier aber normal“, beruhigt Di Grazia. Die Migrationskrise im Mittelmeer könnte dagegen angesichts des bevorstehenden Sommers schon bald zur Eruption kommen.

Lesen Sie in der nächsten Ausgabe: Die zwielichtige Rolle der NGOs im Mittelmeer und das Geschäft mit der Zuwanderung.