© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Pankraz,
Slavoj Žižek und der verlorene Speer

Slavoj Žižek (68), bekennender Neostalinist und Altmarxist, trotzdem oft recht witziger und origineller Publizist, hat es jetzt endlich auf den Begriff gebracht. Den Linken, verkündete er soeben in der Neuen Zürcher Zeitung, ist das Proletariat als Tatwaffe abhanden gekommen. Sie haben kein soziales Instrument mehr, um ihren ideellen Zorn über die Ungerechtigkeiten der modernen Welt in materielle Gewalt umzusetzen: Daraus ergebe sich alles weitere.

Zitat Žižek: „Linke politische Bewegungen sammeln kollektive Zorn-Investitionen und versprechen den Leuten im Gegenzug langfristige Rache-Zinsen (…) Dies führt uns zum großen Problem des westlichen Marxismus heute: dem Fehlen eines revolutionären Subjekts. Wer kann die Rolle der einstigen Proletarier einnehmen? Dargereicht werden Bauern in der Dritten Welt, Studenten und Intellektuelle, neuerdings sollen gar die Flüchtlinge die europäische Linke wiederbeleben, frei nach dem Motto: Wenn es hierzulande kein echtes Proletariat mehr gibt, dann wird die Revolution eben an importierte Ersatzsubjekte ausgelagert.“

Unterm Strich ergebe sich freilich, so räumt der Mann aus Ljubljana (Slowenien) ein, daß es heute weltweit für keine große ökonomistische Revolution à la Marx mehr reiche. Deshalb würden sich die Anführer ja auch zunehmend Zornpotential aus anderen Sozialregionen borgen,  aus der nationalen Frage zum Beispiel, aus schwärenden Konflikten in genuin kulturellen und bildungspolitischen Belangen. Und dann noch der höchst aggressive, nur allzu oft in nackten Terror ausartende Zorn der Islamisten auf die „gottlosen“ Zustände im „dekadenten“Westen und der Zorn der „Rechtspopulisten“, die sich weigerten, die Globalisierung mit all ihren Folgen, inklusive Merkelscher Willkommenskultur, widerspruchslos hinzunehmen.


Pankraz hält Žižeks Blick auf die gegenwärtigen Zustände für ziemlich realistisch, wundert sich aber, wieso ein solcher Mann sich immer noch stolz einen „Marxisten-Leninisten“ nennt. Seine soziologische Grundannahme, hier ein Haufen von halbintellektuellen „Anführern“ und eingebildeten Weltverbesserern, welche auf jeden Fall eine Riesenrevolution anzetteln wollen, da ein Proletariat als willige Speerspitze der Revolution – eine solche Perspektive ist so unmarxistisch wie nur möglich, widerspricht allen dogmatischen Festlegungen und Behauptungen.

In der offiziellen Theorie verhält es sich ja umgekehrt. Da gibt es ein elendes, bis auf die Knochen ausgebeutetes Proletariat, das nach Erlösung schreit und sich deshalb einen „ideologischen Überbau“ errichtet, der seine Sehnsüchte artikuliert. Von Revolution ist nur partiell, in ausgesprochenen Extremfällen, die Rede. Die Proletarier wollen, wie schon Nietzsche gegen Marx einwandte, nichts total Anderes, sondern sie wollen an den Erträgen der kapitalistischen Produktion möglichst „gerecht“ beteiligt werden. Es sind Kleinbürger dieser Welt, keine überzeugten Kämpfer für eine „neue“, „bessere“, nie dagewesene Welt. 

Eine welumspannende, also globalisierte „sozialistische Internationale“ hat es nie gegeben, höchstens im Lied. Wenn es ernst wurde, hatten immer Stammes-, National- und Regionalinteressen Vorrang. Der soziale Platz, den einer einnahm, war wichtig, doch wichtiger blieben stets nationale oder stammesmäßig bedingte Zugehörigkeiten, „Blut und Boden“, wie es früher hieß, Genetik und Umwelt, wie wir heute sagen. Die  Menschenrechte, Recht auf Leben, Freiheit und Eigentum, waren zwar in jeder guten Gemeinschaft lebendig, wurden aber überall durch regionale Traditionen und Gesetze abgespiegelt und modifiziert.

Die Menschheit teilt sich nicht primär in „Klassen“ auf, wie die Marxisten verkünden, sondern in Nationen. Als sich kürzlich Claus Leggewie in einem Interview tief darüber erregte, daß die heutige Linke die „soziale Frage“ immer mehr vernachlässige und dadurch den Rechten den Weg bereite, erntete er nur verlegenes Achselzucken. „Der Wechsel von Klassenanalyse und Klassenkampf zu ‘race-class-gender’“, so führte der Gießener Soziologe aus, „fällt uns jetzt auf die Füße.“ Damit hatte er nur allzu recht. Es kommt eben darauf an, seine Füße rechtzeitig in Sicherheit zu bringen.


Auch die SPD und ihr Wahlkampf-As Martin Schulz haben das lernen müssen oder lernen es gerade. Sie hatten ihr Wahlkampfprogramm für die kommende Bundestagswahl gänzlich auf die soziale Frage abgestellt, auf die Frage „Wer soll mehr kriegen und wem soll weggenommen werden?“ Ihr Schlüsselwort hieß „Gerechtigkeit“. Aber die potentiellen Wähler honorierten das nicht; die Umfragewerte für Schulz gingen drastisch zurück. Nicht die soziale Gerechtigkeit steht offenbar im Vordergrund, sondern die existentielle Sicherheit für das Land und für jeden einzelnen.

Gerechtigkeit ist ohnehin ein Gummibegriff und taugt nicht für Wahlkämpfe. Was dem einen Gerechtigkeit, ist dem anderen Unrecht. Der treffliche Albert Camus hat dem Thema in seinem epochemachenden Buch „L’homme révolté“ ein Extrakapitel gewidmet, unter dem Titel „Die revolutionäre Prophezeiung“. Gerechtigkeit, heißt es dort, schlägt nur allzu leicht in Ungerechtigkeit um, wenn sie nicht von vornherein mit einer sorgfältigen ethischen Rechtfertigung verbunden wird. „Geschieht das nicht“, so Camus,  „dann wird eines Tages auch das Verbrechen eine Pflicht.“

Zumindest besteht dann immer die Gefahr, daß eine anmaßungsvolle „Elite“ von Besserwissern sich selbst zum Hort der Gerechtigkeit erklärt und eventuelle Wähler, seien es nun echte Proletarier oder nur populistische Wutbürger, als Speerspitze  zur gewaltsamen Durchsetzung ihrer ganz und gar egoistischen Ziele, verrückten Ideologien und Utopien mißbraucht.

Slavoj Žižek hat die Lage in seinem Artikel in der NZZ unerwartet scharf angeleuchtet. Im  Sinne des von ihm so sehr geliebten Marxismus-Leninismus ist das zwar nicht, aber es sorgt doch immerhin für Unterhaltung und ein gewisses Maß von Aufklärung.