© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 28/17 / 07. Juli 2017

Die innere Sklaverei abschütteln
Ungehorsam: Eine Erinnerung an den vor zweihundert Jahren geborenen Schriftsteller und Philosophen Henry David Thoreau
Eberhard Straub

Die Vereinigten Staaten verstanden sich von Anfang an als Gegensatz zum korrupten Europa, das wegen dauernder Interessenkämpfe nie zur Ruhe fände. Im Unterschied zur Alten Welt sollte die Neue Welt tatsächlich ganz neuartig sein, ein Reich der Freiheit, der Vernunft und Gerechtigkeit. Hier gab es keinen Platz mehr für Lügner und Heuchler, die im Namen der Staatsräson Willkür und Unsittlichkeit verbreiten und die Friedlosigkeit der Welt zum Normalzustand machen. 

Henry David Thoreau, vor zweihundert Jahren am 12. Juli 1817 in Concord, Massachusetts, geboren, ein großer Humanist und selbständiger Denker, empörte allerdings der schroffe Widerspruch zwischen dem feierlichen Selbstverständnis seiner Landsleute und der niederträchtigen Wirklichkeit. Ein Staat, in dem die Sklaverei weiterhin selbstverständlich war und der mit imperialistischer Gewalt seinen Nachbarn Mexiko bedrängte, konnte für ihn nicht als ein Bollwerk befreiender Großherzigkeit und Gerechtigkeit gelten. Deshalb forderte er jeden dazu auf, um nicht selber ehrlos zu werden, einem Staat, der die Würde der Menschen und die hohe Idee der Gerechtigkeit dauernd verletzt, nicht mehr weiter zu vertrauen und sich für ungerechte Zwecke mißbrauchen zu lassen. 

Thoreau propagierte den zivilen Ungehorsam, der Pflicht für jeden sein müsse, damit es gelänge, die uneinsichtigen Politiker gewaltfrei zu nötigen, die Schmach der Sklaverei im Inneren der USA aufzuheben und auf den imperialistischen Egoismus, zum eigenen Vorteil freie Völker zu berauben und in ihrer Bewegungsfreiheit einzuschränken, zu verzichten. Es gelang ihm und anderen Mitstreitern, daß die Sklaverei allmählich von vielen als Skandal empfunden wurde, der dazu führte, daß sich die US-Amerikaner in einen schrecklichen Bürgerkrieg verstrickten. Die imperialistischen Begehrlichkeiten der USA zu zügeln gelang freilich nie. Henry Thoreau wahrte daher Distanz zu den Institutionen des Bundes und zur Parteipolitik. Er ließ aber nicht davon ab, immer wieder daran zu erinnern, daß Demokratie und verfassungsmäßige Regierungspraxis durchaus den Frieden und deren Fundament, die Gerechtigkeit, stören und gefährden können. Die Neue Welt erschien ihm nicht besser im Vergleich zur Alten und angeblich veraltenden oder schon veralteten Welt. Solch eigensinnige Vorbehalte machten ihn zu Zeiten des sich mächtig regenden demokratischen Populismus seit der Präsidentschaft Andrew Jacksons verdächtig und fast zum Ärgernis. 

Nicht den Meinungen der Mehrzahl unbedacht folgen

Sein Gewissen und seine philosophische Umsicht wollte sich nie mit der beruhigenden Auskunft zufriedengeben, daß alles, was verfassungsgemäß sei, auch vor der Vernunft und deren Übereinstimmung mit den Tugenden bestehen könne. Die Demokratie war für ihn vor den Mächten der Unvernunft – Launen und Leidenschaften – überhaupt nicht sicher, solange Demokraten, weil nun einmal Menschen, anfällig blieben für den Irrtum, die Lüge, die  Denunziation und andere Merkmale unzulänglicher Staatsbürgerlichkeit. Die Zukunft und das Geschick der USA – wie jedes Staates – hingen für ihn nicht von Wahlen ab, sondern von der geistigen Verfassung des Einzelnen, der seinen privaten Raum verläßt und sich in die Öffentlichkeit begibt. Ist die innere Verfassung vieler oder aller Bürger in Unordnung, dann hilft auch keine äußerliche Verfassung. Ein Staat befindet sich erst in guter Ordnung, sobald seine Bürger gut und vernünftig leben und Tag für Tag mit sich kämpfen, um sich nicht vom Laster verführen zu lassen. Einen Waffenstillstand zwischen Tugend und Laster gibt es nicht.

Die Tugend war für Henry David Thoreau eine Frage der Bildung und Selbsterziehung. Zum freien, unabhängigen Mann und Selbstdenker, auf den die Demokratie wie jeder Staat angewiesen ist, wird man nicht, weil einige Grundrechte  öffentliche Anerkennung finden. Ein jeder muß vielmehr die innere Sklaverei abschütteln, den Meinungen der Mehrzahl unbedacht zu folgen und sich unzähligen Konventionen mit ihren oft gar nicht gespürten Zwängen zu unterwerfen. Sonst läuft er Gefahr, sich selbst zu verlieren und seine Unabhängigkeit einzubüßen, mit der er bestätigt, ein auch innerlich freier Mann zu sein.

Die Tugend ist eine Kraft, die Anlagen zum Blühen bringt, die sich bei den unvermeidlichen Auseinandersetzung der Einzelnen mit den Anderen bewähren müssen. Tugend heißt, sich selber prüfen, alles gründlich beobachten, nicht in Aufregung zu geraten, sondern im Vertrauen auf erworbene Urteilsfähigkeiten der eigenen Sicht sorgsam zu folgen und sie mit Entschlossenheit, zuweilen auch mit Trotz gegen Parteimänner, zu behaupten, die danach trachten, nicht bloße Meinungen, sondern Menschen gleichzuschalten und sie damit um ihre Eigenwilligkeit und Freiheit zu bringen. 

Selbsterziehung soll zum guten Leben führen

Henry David Thoreau hatte Max Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ gelesen, die eindringliche Mahnung an jeden, sich selbst zu verbessern und zu vervollkommnen, um ganz seine Eigenart entfalten zu können und in den Vollbesitz seiner Kräfte zu gelangen und die Begrenztheiten des Berufsmenschen zu wahrer Lebensfülle zu erweitern. Jeder Mensch ist unerschöpflich und unaussprechlich. Die unzähligen Menschen ähneln einander, aber sie sind wegen der Mannigfaltigkeit ihrer Eigentümlichkeiten gar nicht gleich. Die Sympathie für die anderen, überhaupt für die Vielfalt sich selber entwickelnder Manifestationen natürlich geistiger Werte und Lebenslust entspringt der Freude, frei unter Freien zu sein, die sich unterscheiden und in ihrem jeweiligen Anderssein vom beglückenden Reichtum menschlicher Sonderformen künden.

Thoreau gehörte zu den amerikanischen Goethe-Gläubigen. Bildung als ununterbrochene Selbsterziehung und Selbstüberwindung sollte zum guten Leben führen, zum Erwachen der eigenen Seele und zum Erwachsenwerden unter mannigfachen Anfechtungen. Wie Goethe ging es ihm nicht um eine gerechte Gesellschaft, sondern um das richtige Leben mitten im falschen. Wenn alle dahin gelangten, in voller Souveränität zur Sonne ihres Sittentages zu werden, erübrigt sich ohnehin die Frage nach der gerechten Gesellschaft. Wir sind die Zeiten, sagte der Heilige Augustinus, und so wie wir sind, ob gut oder schlecht oder zwischen beiden schwankend, sind dann die Zeiten. 

Gewissensfreiheit ist das Ergebnis strenger Disziplin

Die Demokratie in Amerika, aber auch anderswo, braucht daher, wie Thoreau erwartete, entschlossene Menschen, die sich ununterbrochen weiterbilden und zur Freiheit erziehen, was allerdings bedeutet, nicht das zu tun, was alle treiben, sondern aufmerksam dem eigenen Genius und dem Gewissen zu gehorchen. Die Gewissensfreiheit ist kein Recht. Sie ist das Ergebnis strenger Disziplin und geistiger Regsamkeit, die Selbstbeherrschung ermöglichen. Übrigens kann zu ihr auch der finden, der ein unscheinbares Leben führt, er muß es nur ganz ausfüllen und den Anforderungen, die sein Leben an ihn stellt, gerecht werden. Der größte Sieg ist der über sich selber.

Die Gleichheit unter Demokraten beruht auf der Gleichheit der sittlichen Anforderungen, deren Anspruch sich keiner straflos entzieht. Henry David Thoreau verwirft nicht die Demokratie. Er verlangt nur sehr viel von Demokraten, ohne deren Denken und Handeln sie ja nicht gelingen kann. Demokratie braucht Adel. Das meint, die Aristokratisierung des Demos durch die für alle gleich verbindlichen Tugenden, die jedem dazu verhelfen, vollständig er selber zu werden und mit seinem Beispiel den anderen aufzufordern, nicht hinter ihm zurückzubleiben. Adel und Bürger sind dann gar kein Gegensatz mehr, weil beide der Wille versöhnt, über die eigenen Schwächen zu triumphieren und mit sich den Adel der Menschheit zu repräsentieren.

Unter solchen durchaus heroischen Voraussetzungen erübrigen sich Adelige im äußeren Sinne mit Titeln und Privilegien. „Instead of noble men let us have noble villages of men!” Darauf hoffte Thoreau. Und in diesem Sinne verband er Heroismus und Demokratie. Die selbstbewußt Gebildeten, die sich nicht mit Theorien, Bücherweisheiten begnügen, sich vielmehr dem tätigen Leben zuwenden, dürfen unter Umständen allein ihrem Gewissen vertrauen und dürfen, wenn es sein muß, der Regierung den Gehorsam verweigern. Auf solche großmütig und hochherzig gesonnene Bürger ist die Demokratie angewiesen. Sie können den Staat davor schützen, die Gerechtigkeit und den Frieden eklatant zu verletzen, sofern die Regierenden bereit sind, auf deren Stimme zu achten und deren Ratschläge zu beherzigen.





Henry David Thoreau

Im Juli 1846 mußte Thoreau eine Nacht im Gefängnis verbringen, weil er sich weigerte, eine Steuer zu bezahlen. Die Erfahrung inspirierte ihn zu seiner Schrift „Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat“ (1849). Heute gilt sie regierungskritischen Oppositionellen als Pflichtlektüre gewaltlosen Widerstands. Thoreau starb 1862 mit nur 44 Jahren.





Bücher von Henry David Thoreau

Walden oder Leben in den Wäldern. Diogenes, Zürich  2014, broschiert, 352 Seiten, 10,99 Euro

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Diogenes, Zürich 2010, broschiert, 96 Seiten, 9 Euro

Tagebuch I. Übersetzt von Rainer G. Schmidt, Matthes & Seitz, Berlin 2016, gebunden, 300 Seiten, 26,90 Euro

Tagebuch II. Übersetzt von Rainer G. Schmidt, Matthes & Seitz, Berlin 2017, gebunden, 377 Seiten, 26,90 Euro