© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Marschieren für die Gerechtigkeit
Türkei: Die kemalistische Opposition probt den friedlichen Aufstand
Marc Zoellner

Eine solche Demonstration hat Istanbul noch nicht zu Gesicht bekommen: Über anderthalb Millionen Menschen versammelten sich vergangenes Wochenende im asiatischen Stadtteil Maltepe der türkischen Metropole am Bosporus, um ihren Unmut über die politische Führung des Landes zu bekunden. Von rund 15.000 Polizisten beschützt, ließen die Teilnehmer Maltepe in einem Meer von türkischen Flaggen versinken, von Postern des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk – und dem strahlenden Weiß ihrer einheitlichen T-Shirts und Basecaps, auf denen in knallroten Lettern „adalet“ geschrieben stand. „Gerechtigkeit“, so lautete denn auch die zentrale Forderung der Demonstranten und ebenso jene der auf der Bühne agitierenden kemalistischen Parlamentsabgeordneten. Die Angst, selbst Opfer der nächsten Verhaftungswelle Recep Erdogans zu werden, saß diesen an jenem Tage spürbar im Nacken.

Über fünfzigtausend solcher Verhaftungen gab es seit dem gescheiterten Putsch vom vergangenen Sommer, der laut der Regierungspartei AKP von der islamischen Gülen-Sekte initiiert worden war. Rund 150.000 weitere Menschen verloren aufgrund ihrer Anklage ihre Arbeit. 

Viele davon aus fadenscheinigen Gründen: weil sie mit Gülen-Anhängern in Kontakt gestanden oder deren Veranstaltungen besucht hätten. Weil sie Bücher der Gülenisten zu Hause besäßen. Oder schlicht, weil sie auf ihrem Smartphone die Kurzmitteilungs-App „ByLock“ installiert hatten; eine Anwendung, die bevorzugt von Anhängern des in den USA im Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen benutzt wird.

Für Erdogan selbst sind Massenverhaftungen wie jene der letzten zwölf Monate kein Grund, um den Zustand des Rechtsstaates in der Türkei bangen zu müssen. „Wenn sich herausstellt, daß sie unschuldig sind“, hatte der türkische Präsident vor wenigen Tagen noch im Interview mit der Zeit zu Protokoll gegeben, „wird die Justiz sie wieder freilassen. Aber wenn sie schuldig sind, wird die Justiz auch entsprechend richten.“

Und das nach der ganzen Strenge des Gesetzes, so wie im Fall von Kadri Enis Berberoglu. Zusammen mit Can Dündar, dem ehemaligen Chefredakteur der türkischen Tageszeitung Cumhuriyet, wurde dem Istanbuler CHP-Abgeordneten vergangenen Sommer vorgeworfen, Staatsgeheimnisse verraten zu haben. Berberoglu, so der Staatsanwalt, habe Dündar Informationen zur Veröffentlichung in dessen Zeitung zugespielt. Genauer gesagt ein Videoband, das belegen will, wie Lastkraftwagen des türkischen Geheimdienstes MIT im Sommer 2014 Waffen über die Grenze nach Syrien lieferten, um dortige radikalislamische Aufständische damit auszurüsten.

Vergangenen Monat wurden die Verfahren gegen Dündar, der mittlerweile in Deutschland lebt, und dem Abgeordneten Berberoglu, dessen Immunität seit einem Jahr aufgehoben war, getrennt. Das Urteil fiel rasch und entsetzte die Opposition: Berberoglu wurde zu 25 Jahre Haft verurteilt – abzusitzen im staatlichen Gefängnis im Istanbuler Stadtteil Maltepe. Es war jener Moment, der den CHP-Parteichef Kemal K?l?çdaroglu dazu brachte, seinen Unmut auf die Straße zu tragen. In den kommenden 25 Tagen sollte ihn sein Protestmarsch über eine 426 Kilometer lange Strecke führen – direkt von Ankara, dem Wohnsitz des CHP-Chefs, bis hin nach Istanbul, wo Berberoglu inhaftiert ist.

Niemand soll denken, daß der Marsch nun endet

„Diese Verhaftung war der eine Tropfen, der für K?l?çdaroglu das Faß zum Überlaufen brachte“, erinnert sich Dündar Anfang Juli im Onlineblog des Magazins Correctiv. „Denn die regierungsnahe Presse fing an zu behaupten, Berberoglu habe das Video von Parteichef K?l?çdaroglu erhalten. Ganz offensichtlich sollte er nun der nächste sein, der ins Gefängnis gebracht werden sollte.“

Bereits in der Vergangenheit wurde K?l?çdaroglu des öfteren vorgeworfen, zu Verhaftungen anderer Abgeordneter, so wie beispielsweise jener der kurdisch-sozialistischen HDP, geschwiegen beziehungsweise nicht lautstark genug dagegen protestiert zu haben. Jetzt, da mit Berberoglu der erste Abgeordnete seiner eigenen Partei ins Gefängnis muß, scheint für K?l?çdaroglu der Knoten gerissen. Am Morgen nach der Verurteilung Berberoglus tritt K?l?çdaroglu auf die Straße – und Hunderttausende seiner Anhänger schließen sich ihm auf der langen Reise an, ebenso wie unzählige Gewerkschafter, Künstler, Wissenschaftler und HDP-Wähler.

„Wir marschierten für die nicht mehr existierende Gerechtigkeit“, sprach K?l?çdaroglu zur Abschlußkundgebung zu den Demonstranten. „Wir marschierten für das Recht der Opfer, der inhaftierten Rechtsanwälte und Journalisten. Für die Akademiker, die aus den Universitäten entlassen worden sind.“ Gleichzeitig stellte der CHP-Vorsitzende einen Zehnpunkteplan an politischen Forderungen vor, welchen die Regierung zu erfüllen habe, um den Druck von der Straße zu erhalten. Ganz oben auf der Liste: die Freilassung der politischen Gefangenen der Türkei.

„Niemand sollte denken, daß dieser Marsch hier endet“, versprach K?l?çdaroglu seinen jubelnden Anhängern. „Er ist erst der Anfang und eine Wiedergeburt für uns, für unser Land und für unsere Kinder. Gegen das Unrecht werden wir uns auflehnen und revoltieren.“