© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Worauf der Truthahn sich nur allzu gern verläßt
Wissenschaft: Wahrscheinlichkeitsforscher sind sich ihrer Prognosen immer unsicherer
Richard Stoltz

Die Kunst der Prognose hat doch sehr nachgelassen. Oder sind die Voraussagen nur spärlicher geworden, dafür aber verläßlicher, zumindest behutsamer? Neulich bei „Scobel“, der wöchentlichen Wissenschaftssendung von 3sat, die diesmal der „Kunst der Prognose“ gewidmet war, konnte man es gut beobachten. Während es früher bei solchen Anlässen von selbstbewußten, ihrer Sache völlig sicheren „Zukunftsforschern“ oder „Trendforschern“ geradezu wimmelte, traten diesmal nur einige höchst vorsichtige „Wahrscheinlichkeitsforscher“ vor die Kamera, die ihrer Forschungsmethoden keineswegs mehr sicher schienen. 

Die Dinge sind offenbar überall komplexer, unübersichtlicher geworden, das Publikum anspruchsvoller und kritischer. Das ging bei den Wetterprognosen los, wo das Publikum sich früher mit allgemeinen Ansagen begnügte, es heute aber immer genauer wissen will. Ganz vertrackt wird es bei Forschungen über die lebendige Kreatur. Dort geht seit einiger Zeit die „Truthahn-Illusion“ um. Der junge Truthahn wird ja planmäßig gemästet, das heißt jeden Tag gut gefüttert und gehätschelt, und er denkt in seinem naiven tierischen Sinn, das sei der Lauf der Welt und es gehe immer so weiter. Aber siehe, eines Tages ist plötzlich Schluß damit, ihm wird der Hals umgedreht, und er wird selber aufgefressen. Er hat sein Leben lang die Wirklichkeit mit der Wahrscheinlichkeit verwechselt und muß nun dafür büßen.

Es war fast mitleiderregend, zuzusehen, wie bei „Scobel“ die dort versammelten Wahrscheinlichkeitsforscher ihre Angst zelebrierten, bei ihren Prognosen der Truthahn-Illusion zu verfallen und ihrerseits Angst vor dem unerwarteten Geschlachtetwerden zu verbreiten. Dabei ist das doch für unsere derzeitige Gesellschaft eine durchaus realistische Perspektive, über die man einmal genauer reden könnte. Doch man gibt sich eben noch dümmer als der Truthahn vor dem Erntedankfest.