© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 29/17 / 14. Juli 2017

Der mühsame Weg zum grünen Abitur
Die Jäger-Ausbildung ist hart, doch nur mit stupidem Pauken ist sie nicht zu schaffen
Bernd Rademacher

Hefte raus! Wir schreiben einen unangekündigten Test!“ Hoffentlich schaffe ich wenigstens ein „ausreichend“. Leider gibt es die Vier erst ab 70 Prozent vollständig richtiger Antworten. Die Fragen sind speziell: „Fegt erst der alte oder der junge Bock?“, „Wird der linke Lauf einer Doppelflinte mit dem vorderen oder hinteren Abzug ausgelöst?“, „Welche Pflanzenart weist auf einen nährstoffarmen Boden hin?“ Die Köpfe der Kursteilnehmer in der Jagdschule rauchen. Von dem guten Dutzend Schüler ist über die Hälfte weiblich. Seit Jahren erleben die Ausbildungsstätten des ältesten Handwerks der Menschheit einen Riesenansturm von Frauen. Das Geschlechterverhältnis in der Jägerschaft ist bereits beinahe ausgeglichen. 

Jetzt sehen wir Rehe oder Tauben mit anderen Augen

Und noch etwas hat sich sichtbar geändert: Jagd ist kein Reiche-Leute-Sport mehr. Im Kurs sitzt kein Zahnarzt, kein Professor. Die Jagdscheinanwärter haben sich die Kursgebühr mühsam zusammengespart. Dafür sind alle mit Enthusiasmus bei der Sache. In den verschiedenen Sachgebieten (Wildtierbiologie, Pflanzenkunde und Wald-/Landbau, Waffenkunde, Jagdpraxis und -brauchtum, Fleischhygiene sowie Juristisches) gibt es schier unendlich viel Lernstoff. 

Nicht umsonst wird die Jagdscheinprüfung auch das „grüne Abitur“ genannt. Nur durch stupides Pauken ist dieses Pensum kaum zu bewältigen. Deshalb stehen neben dem Frontalunterricht auch Waffenhandhabung, Reviergänge und Schießen auf dem Lehrplan. Die Kombination aus Theorie und Praxis hilft, natürliche Zusammenhänge zu verstehen. Wer durchschaut hat, warum welche Tierart zu welcher Zeit was tut, kann sich logische Zusammenhänge leichter erschließen. 

Dabei erfahren wir erstaunliche Details über Tiere, die uns früher eher langweilig vorkamen. Jetzt sehen wir Rehe oder Tauben mit anderen Augen. Und auch der Blick in die Natur beim Spaziergang hat sich geändert: Aus anonymer Botanik sind plötzlich Erle, Feldahorn und Lärche geworden. Statt „irgendwelcher Vögel“ sehen wir Bachstelze, Saatkrähe und Blaumeise. 

Erst jetzt fällt einem auf, wie viele Leute Hasen und Kaninchen verwechseln oder glauben, daß Hasen auch in unterirdischen Bauten leben. „Das Reh ist die Frau vom Hirsch“ ist tatsächlich eine weit verbreitete Meinung. Und wir haben eine ganz neue Sprache erlernt: das Waiddeutsch. Wir reden nicht mehr von „Ohren“, sondern von Tellern; statt Schwanz sagen wir Lunte und aus der Füchsin ist eine Fähe geworden. Ziemlich verwirrend. Aus dem ungelenken Hantieren mit Büchse und Flinte sind schon routinierte Handgriffe geworden. 

Die Regeln, um Sicherheit herzustellen („Sichern, Öffnen, Stecherkontrolle“) sind uns in Fleisch und Blut übergegangen. Auch die zierlichen jungen Damen machen an der Doppelflinte eine respektable Figur. Und immer wieder Trockenübungen mit dem alten Drilling: „Gehen Sie in den Anschlag – halt, es erscheint ein Pilzsucher!“ Und wieder sichern, öffnen, „entstechen“.

Doch am meisten lernt man im Revier: Also raus aus dem Klassenzimmer. Wir sammeln Gelege von Bodenbrütern ein, um diese vor den Landmaschinen zu retten. Ein anderes Wochenende füllen wir bei einer Drückjagd die Reihen der Treiber auf, beobachten aufmerksam das Streckelegen und versuchen die Jagdsignale der Hornbläser zuzuordnen.

Heute entscheidet sich, ob der eine oder andere vielleicht doch noch feststellt, daß die Jagd nichts für ihn ist: Wir brechen einen Bock auf. Der hat vor rund zwei Stunden sein Leben ausgehaucht. Das Messer fährt unter die Bauchdecke. Pansen, Därme, Organe und Schlund liegen vor uns. Die Speiseröhre wird durchtrennt und verknotet, damit kein Mageninhalt austritt und das Fleisch verunreinigt. 

In Gruppen sollen wir die Organe auf bedenkliche Merkmale untersuchen. Doch alle Innereien sind ohne Befund. Die Leber in meiner Hand ist glatt, glänzend und scharfrandig. Alles in Ordnung. Und keinem ist schlecht geworden. Beim geselligen „Schüsseltreiben“ danach fließt das Bier, und viele verabreden sich zum gemeinsamen Lernen. Vielleicht hält der eine oder andere Kontakt länger, entwickelt sich zu einer Freundschaft oder kann zumindest später einmal eine Pacht vermitteln.

In vier Wochen ist es soweit: Dann müssen wir die Schießprüfung in drei Disziplinen und den schriftlichen Teil bestehen und uns den mündlichen Fragen der Prüfer stellen. Bis dahin schwirren noch viele Fragezeichen durch unsere Köpfe. Verwirrt stehe ich vor den Tierpräparaten im Klassenraum: Was ist das für ein Vogel? Sieht aus wie eine Dohle, hat aber schwarze Augen – ich muß passen. „Eine Dohle“, sagt der Jagdlehrer. „Ja aber, die dunklen Augen?“, wende ich ein. „Der Präparator hat halt keine blauen mehr gehabt.“