© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

„Weder historisch noch fair“
Kann man Widerstand und Wehrmacht trennen, wie es die Politik mit den Kasernensäuberungen tut? Hanno Kielmansegg, General a.D. und Sohn Johann Adolf Graf von Kielmanseggs, Mann des 20. Juli und einer der Gründungsväter der Bundeswehr, widerspricht
Moritz Schwarz

Graf von Kielmansegg, Sie sind 1956 Soldat geworden. Wieviel Wehrmacht „steckte“ damals in der Bundeswehr?

Hanno Graf von Kielmansegg: Praktisch das gesamte Führerkorps, vom Unteroffizier bis zum General, waren Soldaten in der Wehrmacht und brachten unersetzliche Erfahrungen mit. Sie haben unter schwierigsten Bedingungen die wahrscheinlich demokratischste Armee der Welt aufgebaut.

Ihr Vater Johann Adolf Graf von Kielmansegg (1906–2006) gilt als ein „Vater der Bundeswehr“ („FAZ“) und gehörte zu diesen ehemaligen Wehrmachtssoldaten. Verstand er sich – schließlich als Vier-Sterne-General der Bundeswehr und Nato-Oberkommandierender für Europa Mitte – immer noch als solcher oder hatte er mit seiner Vergangenheit gebrochen?

Kielmansegg: Nein. Mein Vater kam eigentlich aus der Reichswehr, aber er hat seine Zeit als Soldat der Wehrmacht nie verleugnet. Und ihm und den anderen sogenannten Vätern der Bundeswehr ging es auch nicht darum, alles aus der Wehrmacht zu verwerfen, sondern vor allem das, was die Nationalsozialisten eingebracht hatten – seit 1933 aus der Reichswehr der Weimarer Republik die Wehrmacht geworden war. Keiner unserer damaligen Vorgesetzten hatte mit der Wehrmacht – wohl aber mit dem Nationalsozialismus – gebrochen. Sie waren loyale Soldaten der Bundeswehr und ich habe von keinem je ein Wort der Verherrlichung dieses Regimes gehört. Übrigens hat Konrad Adenauer auch deshalb seine Ehrenerklärung im Bundestag für die Wehrmacht abgegeben. Und weil er diese Soldaten für die neue Armee brauchte und sie nicht einer pauschalen moralischen Verurteilung überlassen konnte und wollte.  

Ist es dann nicht schäbig, daß Verteidigungsministerium und Bundeswehrführung die Wehrmachtserinnerung nun wie angeekelt „vom Hof jagen“?

Kielmansegg: Die Verteufelung der Wehrmacht ist historisch falsch. Mein Vater und Millionen alter Soldaten haben frühere Versuche dieser Art als beleidigend und ehrverletzend empfunden.

Laut Traditionserlaß der Bundeswehr gelten nur noch die Militärreformen von 1813 und der Widerstand gegen Hitler als traditionswürdig. Kann man den Widerstand von der Wehrmacht trennen?

Kielmansegg: Das wäre zu einfach. Die Verschwörer waren und blieben Soldaten der Wehrmacht. Ihr Ethos aber war zeitlos. 

Die Politik tut das aber.

Kielmansegg: Damit handelt sie ideologisch. Historisch ist das nicht begründbar. Trennt man den militärischen Widerstand ab, müßte man ebenso die Verbrechen abtrennen. Alles andere wäre weder logisch noch fair.

Sind die Verbrechen nicht symptomatischer für die Wehrmacht als der Widerstand?

Kielmansegg: Nein.  Zwar gab es auch eine Verstrickung in Kriegsverbrechen  und offenbar auch logistische Unterstützung für den Abtransport von Juden. Allerdings waren laut einer Studie „nur“ zwischen eins und 1,5 Prozent der Wehrmachtssoldaten persönlich an Verbrechen beteiligt. Das sind zwar bis zu 1,5 Prozent zuviel, doch – abgesehen davon, daß es auch bei den Siegermächten schwere bis heute ungesühnte Kriegsverbrechen gab – bedeutet das, daß sich etwa 98 Prozent der 19 Millionen Wehrmachtssoldaten persönlich keine Verstöße gegen das Kriegsvölkerrecht haben zuschulden kommen lassen. Allerdings halte ich von solcher Abtrennung nichts. Die Realität ist, daß die Wehrmacht sehr vielgestaltig war. Es gab Unpolitische, NS-Gegner wie Anhänger. Es gab aber vor allem die überwiegende Mehrheit derer, die einfach tapfer und aufrecht unter Aufopferung ihres Lebens für ihr Vaterland kämpften.

Warum ist dann heute meist von der „nationalsozialistischen Wehrmacht“ die Rede?

Kielmansegg: Das ist ein historisch nicht haltbares Pauschalurteil. Es fängt damit an, daß sich nach 1933 eine größere Zahl Freiwilliger zur Wehrmacht meldete, gerade um dem Druck, der NSDAP beitreten zu müssen, zu entgehen. Denn als Erbe der Weimarer Republik war es Soldaten verboten, Mitglied einer Partei zu sein, weil die Armee über dem Parteienstreit stehen sollte. Übrigens auch schon vor 1933 standen viele Offiziere, die nicht immer Freunde der Republik waren, der NSDAP dennoch innerlich ablehnend gegenüber. Und es war der Chef der Reichswehr, der die Partei 1923 sogar verbieten ließ. Die breite Masse der Wehrmachtssoldaten aber waren, wie gesagt, weder Widerständler noch Nationalsozialisten – selbst wenn etliche Hitler-Anhänger gewesen sein mögen. Das klingt widersprüchlich, ist es aber nicht. Es war nicht selten, den Erfolgs-Kanzler Hitler zu verehren, ohne seine Weltanschauung zu teilen. Beispiel dafür sind etwa der junge Stauffenberg oder die Geschwister Scholl. Die Masse hat schlicht treu ihrem Vaterland gedient – leider tragischerweise für einen schlechten Zweck. Aber solange sie tapfer und ehrenhaft gekämpft haben, können auch sie Vorbilder sein; wie ihre Kameraden, die sich zum Widerstand entschlossen.

Waren letztere vielleicht so wenige, daß sie nicht ins Gewicht fallen? 

Kielmansegg: Keineswegs. Allerdings hatten nur wenige überhaupt die Möglichkeit, an die hochgesicherten Nazigrößen heranzukommen. Jedoch war der Widerstand weit größer und älter als die Erhebung vom 20. Juli 1944. Bereits 1938 plante der Generalstabschef des Heeres – also einer der höchsten Soldaten der Wehrmacht – General Franz Halder, zusammen mit weiteren hochrangigen Offizieren den Staatsstreich, um Hitler abzusetzen und vor Gericht zu stellen. Als politische Rechtfertigung dafür sollte die Eskalation der Sudetenkrise dienen, die akute Kriegsgefahr in Europa bedeutet hätte. Doch fand die Eskalation nicht statt, weil die Westmächte Hitler das Münchner Abkommen gewährten. Und den erfolgreichen „Friedenspolitiker“ Hitler zu stürzen, hätte die Wehrmacht vor dem Volk nicht rechtfertigen können. Es hätte die Gefahr eines Bürgerkrieges bedeutet – und damals waren die Parteiarmeen SS und SA der Wehrmacht noch zahlenmäßig überlegen! Tatsächlich gab es von Anfang an Generäle, die sich Hitler widersetzten, der bekannteste ist wohl Kurt von Hammerstein, der daher entlassen wurde. Zudem beseitigte Hitler 1938 in der Blomberg-Fritsch-Intrige den seinen Kriegsplänen kritisch gegenüberstehenden Oberbefehlshaber des Heeres, Generaloberst Werner von Fritsch, der gebrochen später in Polen den Tod an der Front suchte. Und ebenfalls 1938 trat Halders Vorgänger als Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck (Seite 19), zurück. Gab es in irgendeiner anderen Institution einen so hochrangigen freiwilligen Rücktritt aus Protest gegen Hitler? Ich kenne keinen.  

Hitler sagte: Er habe früher geglaubt, „der Generalstab gleiche einem Fleischerhund, den man halten muß, weil er sonst jeden anfällt ... (Doch) er ist alles andere als das. Er hat mich immer hindern wollen.“

Kielmansegg: Hitler nannte die Generale auch Feiglinge und meinte, daß die Wehrmacht die einzige Institution sei, die er nicht mit seinem Geist habe erfüllen können. Deshalb hat er ihr auch immer mißtraut. Es gab Nationalsozialisten in der Wehrmacht, auch in der Generalität, und es gab Willfährige. Die Wehrmacht war ein Spiegel der Gesellschaft. Unterdrückung und Angst sind höchst wirksame Instrumente jeder Diktatur. Und natürlich schritt ihre nationalsozialistische Durchdringung mit den Jahren voran, auch weil der Nachwuchs nun aus einem vom Nationalsozialismus durchwirkten Zivilleben kam. Dennoch, ihrem Geist nach war sie nie eine nationalsozialistische Institution! Selbst die Siegermächte haben sie nach 1945 nicht als solche eingestuft. Bezeichnend etwa, daß nur in der Wehrmacht nicht mit Hitlergruß gegrüßt wurde – was sich erst im letzten Moment, nämlich nach dem 20. Juli 1944 zwangsweise änderte. Auch hintertrieben mitunter Befehlshaber Hitlers Befehle. Etwa den berüchtigten Kommissarbefehl, nach dem alle sowjetischen Politkommissare zu erschießen waren. Manche Kommandeure setzten den Befehl um, viele – unter persönlicher Gefahr – aber nicht. Natürlich widersprachen letztere nicht laut, sondern verweigerten ihn stumm. Auch unter dem 20. Juli 1944 dürfen Sie sich nicht nur Stauffenberg und Kameraden vorstellen. Tatsächlich bestand die Erhebung aus Hunderten, teils hochrangigen Offizieren. Allein unter den nach dem 20. Juli hingerichteten oder in den Tod getriebenen mehr als 200 Opfern waren drei Feldmarschälle – darunter  eine Heldenfigur wie Rommel – und 19 Generäle. Noch mehr wurden auf andere Weise kaltgestellt.

Einer der Beteiligten des 20. Juli war Ihr Vater, Freund Stauffenbergs und Oberst im Generalstab. Wieso überlebte er?

Kielmansegg: Mein Vater war damals in der Operationsabteilung des Oberkommandos des Heeres eingesetzt. Mit seiner Hilfe sollte der Reiterverband Philipp von Boeselagers zur Unterstützung des Staatsstreichs herangeführt werden. Da Hitler überlebte, mußte dessen Marsch abgeblasen werden. So konnte mein Vater seine Beteiligung verheimlichen. Zwar wurde er verhaftet und verhört, konnte sich aber glaubhaft verteidigen. Er wurde als unzuverlässig aus dem Generalstab entfernt. Im November 1944 bekam er dann das Kommando über das Panzergrenadierregiment 111, mit dem er bis zum Ende im Westen kämpfte. Erst als im April 1945 die Kommandostrukturen zusammenbrachen, löste er sein Regiment selbständig auf, was nicht ungefährlich war, und ließ jedem Soldaten einen Marschbefehl in seinen Heimatort ausstellen, damit sie nicht noch von Standgerichten als Deserteure aufgehängt würden. Er selbst kam schließlich in US-Kriegsgefangenschaft.

Sah sich der Widerständler Kielmansegg nicht mehr als Soldat der Wehrmacht? 

Kielmansegg: Im Gegenteil, er sagte über den 20. Juli: „Wir haben als Soldaten gehandelt.“ Ein Zeichen, daß Widerstand und Wehrmacht keine Gegensätze waren, sondern zusammengehörten.  

Warum gelten sie dann heute als Gegensätze? Warum wird diese Sicht von Politik und Bundeswehr exekutiert? Und warum die pauschale Verdammung der Wehrmacht, wenn sie zwar instrumentell, aber nicht geistig „Hitlers Wehrmacht“ war? 

Kielmansegg: Sie war Instrument Hitlers – wie alle Institutionen damals, ja wie der ganze Staat, letztlich das ganze Volk, Instrument waren. Selbst wer nur Mülltonnen leerte oder in seiner Praxis Patienten behandelte, trug dazu bei, daß der Alltag und das System funktionierte. Da sind wir dann bei dem Vorwurf der Kollektivschuld, die es ethisch und juristisch nicht gibt. Ich habe diese rigorose, undifferenzierte Moralisierung, meist vom linken Spektrum vertreten, nie verstanden. Sie ist realitätsfern und ungerecht. In Deutschland wird das offizielle Geschichtsbild jener Zeit stark und einseitig von einem linken Meinungskartell bestimmt und uns vorgeschrieben, was „politisch korrekt“ zu sein hat. Das ist leider nicht ohne Eindruck auf die Bundeswehrführung geblieben. Und folglich fällt dieser unhistorischen und unfairen Sicht auch die Wehrmacht zum Opfer. Dabei sind sich große Historiker einig, daß man eine Zeit nicht an heutigen Maßstäben messen darf, sondern eine gerechte Bewertung auch und vor allem ihre damaligen Bedingungen und gültige Wertordnung zugrunde legen muß. Die tatsächlichen historischen Umstände, ebenso wie die zahlreichen Ehrenerklärungen für die Wehrmacht selbst bedeutender Demokraten, werden einfach ignoriert – darunter Adenauer, de Gaulle, US-Präsident Eisenhower, Helmut Kohl, François Mitterrand, der sagte, daß sie tapfere Soldaten waren, derer wir uns nicht zu schämen brauchen, und Moshe Dayan, der ehemalige israelische Verteidigungsminister, der sie für „die besten der Welt“ hielt. 

Sie haben sich unlängst mit einem Leserbrief in der „FAZ“ zu der, wie Sie schreiben, an „Exorzismus grenzenden Hexenjagd“ in den Kasernen geäußert. 

Kielmansegg: Mich hat die Verteidigungsministerin sehr enttäuscht. Ich glaube, sie hat weder den Kern des Soldatischen, das innere Wesen der Armee – und deren besondere Aufgabe bis hin zum Töten und Sterben, wie das Gesetz es befiehlt –, noch das Prinzip der Fürsorge verstanden. Wer gut und verantwortlich führen will, muß seine Untergebenen wertschätzen, achten und sich, wo geboten, vor sie stellen. Doch Frau von der Leyen hat die Truppe in schwieriger Situation alleingelassen, pauschal diffamiert und beschädigt. Ihr war ihre Karriere immer wichtiger als die Soldaten. 

Wenn das so ist, wo bleibt dann der Widerstand des Generalinspekteurs?

Kielmansegg: Gute Frage. Leider hat sich ein Großteil der oberen militärischen Führung geschmeidig angepaßt. Das „Haltungsproblem“ liegt eher hier.Längst hätte einer der sie umgebenden Generäle aufstehen und sagen müssen: „Frau Ministerin, so nicht!“ Oder: „Nicht mit mir!“ Stattdessen Willfährigkeit und falsch verstandene Loyalität. Denn kommt tatsächliches oder vermeintliches Fehlverhalten einzelner Soldaten in die Medien, wird nicht erst gewissenhaft untersucht, was tatsächlich los war, sondern die Ministerin entläßt die nächstbesten Vorgesetzten, oft unter unwürdigen Umständen, obwohl sie vielleicht gar nicht verantwortlich sind – damit um Gottes Willen nur nichts an ihr haften bleibt. 

Gerade wenn sie tatsächlich nur an sich denkt, ergibt das aber keinen Sinn. Denn  so hat sie sich doch mehr geschadet, als wenn sie sich fairer verhalten hätte. 

Kielmansegg: Eben das zeigt, daß sie die Truppe nicht verstanden hat. Sie wollte Führung zeigen, um sich zu profilieren. Vermutlich weil sie in anderen Ministerien so Erfolg hatte und weil ihre militärischen Berater offenbar immer nur nicken. Wenn man das grundsätzlich richtige Prinzip „Primat der Politik“ aber mißbraucht, um jede Kritik im Keim zu ersticken, dann ist der Soldat einer höheren Instanz verpflichtet: seinem Gewissen. Sein Eid gilt dem Recht und der Freiheit des deutschen Volkes, nicht einer Person. Die in 25 Jahren heruntergewirtschaftete Bundeswehr, die vom großen Teil der Medien und unserer pazifistischen Gesellschaft eher geduldet als geachtet oder gar geliebt wird, hat keine Lobby. Aber nur wenn sie wertgeschätzt und in ihren Besonderheiten verstanden wird und die nötigen Mittel erhält, kann sie ihren schweren Auftrag, den sie sich nicht selbst ausgesucht hat, mit Stolz und motiviert erfüllen.   






Hanno Graf von Kielmansegg, ist Sproß einer alten Soldatenfamilie, die vor allem in den Befreiungskriegen und bei Waterloo in Dienst stand. Mütterlicherseits zählt der Reformator Philipp Melanchthon zu seinen direkten Vorfahren. Geboren 1935 in Hannover, meldete sich Kielmansegg 1956 zur Bundeswehr, absolvierte als Panzeroffizier die Generalstabsausbildung, diente im Verteidigungsministerium und war zuletzt Chef des Stabes der Nato-Heeresgruppe Nord. 1993 nahm der Generalmajor seinen Abschied.

Foto: Stauffenberg und Kameraden im Film „Operation Walküre“, USA 2004: „Hitler klagte, die Wehrmacht sei die einzige Institution, die er nicht mit seinem Geist habe erfüllen können“

 

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