© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

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Großbritannien: Premierministerin Theresa May muß nicht nur Labour und Brüssel trotzen, auch in den eigenen Reihen rumort es
Michael Walker

Am 18. April dieses Jahres brach die britische Premierministerin Theresa May ihr Versprechen, keine vorzeitigen Parlamentswahlen anzuberaumen. Der Schuß ging nach hinten los und bescherte der Labour-Partei bei den Wahlen am 8. Juni überraschende Zugewinne, so daß Mays konservative Regierung ihre absolute Mehrheit verlor. 

Die Wahlergebnisse stärkten der Premierministerin nicht wie erhofft den Rücken für ihre bevorstehenden Verhandlungen über den britischen EU-Austritt. Sie steht nicht nur außenpolitisch unter Druck, vor allem aus der eigenen Partei bläst ihr der Wind ins Gesicht. Entsprechend rief sie zu Beginn der Woche, einem Bericht von Sky News zufolge, ihre Partei zur Ordnung. Anlaß hierfür war unter anderem die Forderung von Finanzminister Philip Hammond nach einem „weichen Brexit“.

Zweifel an erfolgreichem EU-Austritt mehren sich

Auf der anderen Seite deutet aber auch nichts auf einen Wiederaufschwung der proeuropäischen Seite hin. Die Liberal Democrats, die sich als einzige Partei im Wahlkampf eindeutig für eine zweite Volksabstimmung über den EU-Austritt positioniert hatten, mußten sich mit zwölf Sitzen begnügen, womit sie ihr Ergebnis von 2015 zwar um vier Mandate verbessern, den Stimmanteil jedoch nur unwesentlich erhöhen konnten. Die Konservativen sind zur Regierungsbildung auf die Duldung der nordirischen Democratic Unionist Party angewiesen. Das unerwartet gute Abschneiden der Labour-Partei hat die Aussichten ihres Parteichefs Jeremy Corbyn schlagartig verbessert. 

Corbyns überraschender Aufstieg an die Parteispitze im September 2015 sorgte für viel Aufruhr und Spaltungen in den eigenen Reihen. Möglich wurde er durch ein erstmalig eingeführtes Direktwahlverfahren des Vorsitzenden durch die Parteimitglieder. Corbyns Popularität bei der Parteibasis wird von vielen Kommentatoren als Ausdruck des Protests gegen den wählerfernen Zynismus des Polit-Establishments gewertet.

Instrumente der direkten Demokratie wie Direktwahlen und Volksabstimmungen haben den Vorteil, daß sie langwierige parteipolitische Entscheidungsprozesse simplifizieren und abkürzen. Andererseits führen sie leicht zur Wiederentfachung alter Debatten und zur allgemeinen Radikalisierung der politischen Landschaft. In Großbritannien, wo die Konservativen mittlerweile ebenfalls ein Direktwahlverfahren zur Entscheidung über den Parteivorsitz eingeführt haben, ist ein Trend hin zu einer direkteren, aber weniger stabilen Begründung der politischen Legitimität zu beobachten. Volksentscheide waren hierzulande vor 1973 unbekannt, werden aber seitdem zunehmend als Mittel der politischen Meinungsbildung eingesetzt. 

Der beschriebene Trend wiederum kann als Teil eines gesamtgesellschaftlichen Wandels zu einem weniger hierarchischen Verständnis von politischer Entscheidungsfindung angesehen werden, das die unmittelbaren Wünsche der Bevölkerungsmehrheit berücksichtigt. 

Erbitterte Gegner des EU-Austritts wie der ehemalige Premierminister Tony Blair und sein seinerzeitiger Pressesprecher Alastair Campbell sprachen sich von Anfang an gegen eine Volksabstimmung zur britischen EU-Mitgliedschaft aus und sind derzeit eifrig dabei, die Mär von einem Stimmungsumschlag in der Bevölkerung zu verbreiten. Daß die Austrittsbefürworter eine bunt gemischte Gruppe sind, die sowohl überzeugte Sozialisten als auch Anhänger der freien Marktwirtschaft umfaßt, spielt derartigen Demoralisierungsbemühungen in die Hände. 

Mays gescheiterter Versuch, sich den Rückhalt der Bevölkerung zu sichern, hat ihre Autorität in der eigenen Partei unterminiert und angeblich Zweifel bezüglich der Machbarkeit eines erfolgreichen EU-Austritts gestreut. Unter diesen Umständen wittern Brexit-Gegner Morgenluft und rühren in linksliberalen Medien, allen voran der Tageszeitung The Guardian, eifrig die Kampagnentrommel für einen zweiten Volksentscheid. 

Während sich unter libertären Brexit-Befürwortern Unsicherheit und Wankelmut breitmachen, richten ihre sozialistisch gesinnten Mitstreiter ihren Fokus auf das zweite große Thema in der britischen Politik, nämlich den anscheinend unaufhaltsamen Aufstieg Corbyns. 

Die Überreste von Blairs „New Labour“ arbeiten seit knapp zwei Jahren so unermüdlich wie vergeblich daran, den überzeugten Linksausleger abzusägen, der kein Hehl aus seiner Bewunderung für Castro, Hugo Chavez und die Hisbollah macht und Großbritannien am liebsten nicht nur aus der EU, sondern auch aus der Nato führen würde. 

Labour-Chef windet sich beim Thema Brexit

Laut einer Meinungsumfrage, die YouGov am 6. Juli im Auftrag der Tageszeitung The Times durchführte, würde Labour im Falle einer Neuwahl mit 48 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg über die Konservativen davontragen, die es nur noch auf 38 Prozent bringen würden. 

Auf Fragen zum EU-Austritt reagiert Corbyn mit dem Gebaren eines Politikers, der lieber über dringendere Themen sprechen würde. Anscheinend wünscht er sich „möglichst vorteilhafte“ Austrittsbedingungen unter Beibehaltung einiger umwelt- und arbeitsrechtlicher EU-Gesetze – eine Position, die für EU-Befürworter zweifelsohne nach wie vor inakzeptabel ist. Vorstellbar wäre eine bis zur Bedeutungslosigkeit abgeschwächte Version des EU-Austritts unter Corbyn als Premier. 

EU-Chefverhandler Michel Barnier hat jedenfalls Druck auf Großbritannien für die bevorstehende zweite Runde der Brexit-Verhandlungen gemacht. Barnier sagte, die „echte harte Arbeit fängt erst jetzt an“. Er bekräftigte, daß die drei Punkte Bürgerrechte, Finanzverpflichtungen und Nordirland prioritär seien. „Die kann man nicht voneinander getrennt behandeln.“

Vor der nächsten Runde fordert die EU eine klare Zusage, daß Großbritannien beim EU-Austritt finanzielle Pflichten übernimmt. „Diese Frage ist von überragender Bedeutung“, so Barnier. Das sei die Grundlage für alle Gespräche über die künftigen Beziehungen mit dem Vereinigten Königreich. Die Summe könne später im einzelnen geklärt werden.