© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Pankraz,
Ali Ibn Abi Talib und der totale Haß

Jeden Tag erfahren wir es aus den Medien: Unser modernes, immer mehr digitalisiertes Leben, besonders seine Politik, ist durchtost von Haß, blankem Haß, der sich äußert in mörderischen Haßreden (Hate Speech“) und ungeniert zu Gewalttaten aufruft. Nur was er denn eigentlich ist, dieser Haß – das erfahren wir nicht.  Zwar gibt es – wie könnte es anders sein – schon eine umfängliche Truppe von neumodischen „Haßforschern“, doch was die bisher von sich gegeben haben, ist nichts weiter als hilfloses Wortgestammel. Nirgendwo auch nur der Ansatz für eine halbwegs haltbare Definition.

Haß, so lesen wir, könne von sich aus gar nicht definiert werden, er sei ein „Gefühl“ und deshalb nicht logisch eingrenzbar. Ihm zugrunde liege „spontane Abneigung“, die sich durch gewisse äußere oder innere Faktoren (seelische Verletzungen) immer mehr steigere und intensiviere, bis sie eben das kochende Stadium des Hasses erreicht habe. Haß sei das Gegenteil von Liebe und wie diese bis fast ins Unendliche ausdehnbar. Es regierten hier Plötzlichkeit und Unvorhersehbarkeit. Liebe schlage, gar nicht selten, urplötzlich in Haß um, und der Wissenschaft falle es da schwer, interpretierend hinterherzukommen.

Wer philosophisch und tiefenpsychologisch über den Haß belehrt werden will, der ist, findet Pankraz, immer noch bei dem deutsch-mexikanischen Anthropologen Erich Fromm (1900–1980) am besten aufgehoben. Dessen höchst lesbares Buch „Anatomie der menschlichen Destruktivität“ von 1974 hat die theoretische Unwägbarkeit (und deshalb auch politische Mißbrauchbarkeit) des Redens über den Haß bereits sehr deutlich hervorgehoben. Nur allzu oft, so Fromm, würden simple politische Polemiken von interessierter Seite als blinde Haßtiraden hingestellt und so das politische Klima bewußt vergiftet.


Betrachtet man die heutige, meist von den momentan herrschenden Kräften angezettelte „Hate Speech“-Debatte, so muß man in der Tat registrieren, daß immer öfter ganz normale, keineswegs vor blankem Haß zitternde Wortmeldungen von Meinungsgegnern als Haßorgien hingestellt werden. Da twittert etwa jemand in ganz biederem Tonfall, daß er mit der Flüchtlingspolitik der derzeitigen Regierung nicht einverstanden sei – und schon sprechen die offiziösen Medien von „Haßpropaganda“, die juristisch geahndet werden müsse. Nicht mehr der Ton macht die Musik, sondern die schlichte (abweichende) Meinung!

Fromm sprach seinerzeit in Hinblick auf solche Entwicklungen von einer drohenden „Theologisierung der menschlichen Destruktivität“. Tatsächlich läßt sich in der Geschichte beobachten, daß sich der Haß ausgerechnet bei religiösen Auseinandersetzungen oft fest etabliert und dort gewissermaßen institutionelle Formen annimmt. Aus einem heißen Gefühlsgrad wird eine eiskalte behördliche Vorschrift. Der Ketzer, der Abweichler, der Dissident wird zum Haßobjekt schlechthin, ihn zu hassen zur bürgerlichen Pflicht, der man eifrig mit Wortgeklingel und Anzeigen bei der Behörde nachzukommen hat.

Glücklicherweise halten solche religiösen Haßperioden der Abschleifkunst der Geschichte in der Regel nicht allzu lange stand. Der Haß kühlt herunter zu gleichsam gewohnten Abneigungsgraden, man arrangiert sich allmählich, findet dies und das beim Anderen eventuell sogar akzeptabel oder vorbildhaft. So war es zum Beispiel mit der lutherischen Reformation in Europa. Der Haß schäumte auf bis zu den Hugenottenverfolgungen in Frankreich und bis zum Dreißigjährigen Krieg in Deutschland. Aber spätestens nach zweihundert Jahren war Schluß damit, und es kehrten „normale“ Klimagrade zurück.

Einzig im Islam war es anders. Dort schwärt der Gegensatz zwischen Sunniten und Schiiten nun schon seit anderthalb tausend Jahren, und von einer Abkühlung des gegenseitigen Hasses kann keine Rede sein, im Gegenteil. Und dabei ist es, zumindest für den außenstehenden Beobachter, faktisch unmöglich, herauszubekommen, worüber die beiden Seiten sich eigentlich streiten. Theologische Unterschiede kann Pankraz nicht erkennen, und auch die Intensität ihres Glaubens an Allah, den Allmächtigen, den Allgütigen, wird sowohl von Sunniten wie Schiiten glaubhaft und völlig übereinstimmend bezeugt.


Alles dreht sich offenbar allein um jenen Erbfolgestreit nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 661 um dessen Kalifat. Zwei potentielle Nachfolgekandidaten standen in den Startlöchern, Ali Ibn Abi Talib, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten, und Abu Bakr, sein Schwiegervater. Beide waren also enge Verwandte und Familienangehörige Mohammeds, und es ist nicht bekannt, wen er selbst mit der Nachfolge betraut hätte. Beiden scheint er absolutes Vertrauen geschenkt zu haben, beide waren unbestritten leidenschaftliche Anhänger und Exekutoren all seiner Lehren.

Irritiert fragt sich Pankraz, wieso der offenbar rein machtpolitische, nirgendwo glaubensmäßig zu begründende Streit zwischen Ali und Abu Bakr eine so große und einflußreiche Religionsgemeinschaft wie den Islam über die Jahrtausende hinweg bis heute so dauerhaft und folgenreich aufwühlen konnte und weiterhin kann. Unzählige Kriege sind seit dem Jahr 661 zwischen Sunniten und Schiiten geführt worden, grausamste Gewaltakte dazwischen, immer wieder loderte heißester Haß auf, an dem sich dann weltpolitische Konflikte entzünden, wie die aktuelle Lage im Nahen Osten beweist. 

Resultiert der Grundhaß zwischen Sunniten und Schiiten wirklich aus religiösen Antrieben? Oder erscheinen in ihm eventuell noch tiefer liegende, etwa ethnische Antriebe, reflektieren sie vielleicht die jahrtausendealten Spannungen zwischen den indogermanischen Persern und den semitischen Arabern, ihren verbissenen Kampf um die Vorherrschaft im „kulturellen Halbmond“, dem Ursprungsland aller abendländischen Zivilisation? Auf solche Vermutungen stößt man, wenn man dem „Hate Speech“ in unseren Medien zuhört.