© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 30/17 / 21. Juli 2017

Brückenbauer zwischen den Kulturen
West-östlicher Divan: Der französische Schriftsteller Mathias Enard schlägt in seinem Roman „Kompaß“ eine Brücke vom Okzident in den Orient
Felix Dirsch

Spätestens seit den Anschlägen vom 11. September 2001 erscheint aller Tage Abend für die Beziehung zwischen Abend- und Morgenland. Bereits fünf Jahre davor schuf der US-Politikwissenschaftler Samuel P. Huntington den kulturtheoretischen Rahmen für solche Bruchlinien, die in den letzten Jahren überaus deutlich in Erscheinung treten, etwa das Abdriften der Türkei von Europa. Dem „Kampf der Kulturen“ als Signatur des Zeitgeistes wurde öfter widersprochen, mit einiger Verzögerung auch von dem Nobelpreisträger Amartya Sen in seinem Buch „Die Identitätsfalle“. Er nimmt das Ineinanderfließen der Kulturen als konstitutiv für die Gegenwart an. 

Derartige Auseinandersetzungen zeigen sich seit einigen Jahren auch auf dem belletristischen Sektor. Michel Houellebecq ist der Anführer einer Riege von Autoren, die das Zusammenleben zwischen einer stark gestiegenen Zahl von Muslimen und den Herkunftseuropäern durchaus pessimistisch betrachten. Schriftsteller wie Richard Millet, Eric Zemmour, der den Selbstmord Frankreichs diagnostiziert, Jean Raspail, der die „Willkommenskultur“ schon vor Jahrzehnten aufgespießt hat, der Historiker Dominique Venner, der sich 2013 aus Protest gegen die Selbstaufgabe Frankreichs das Leben genommen hat, der Ex-Linke und bekennende Homosexuelle Renaud Camus, dem gute Kontakte zur Politik nachgesagt werden, und Alain Finkielkraut, immerhin „Unsterblicher“ der Académie française, treten der Verharmlosung der Islamisierung ihres Landes entgegen. Letztlich geht es bei den meisten Stellungnahmen weniger um eine kritische Haltung gegenüber dem Islam, sondern um den Verlust eigener Werte im Westen.

Doch gibt es auch dieser Sicht entgegengesetzte Standpunkte, die sich ebenfalls auf eine lange Traditionslinie berufen können. Von der Zeit der Aufklärung (Montesquieu, Lessing) über Goethe, Rimbaud, Balzac, Bizet, Hafis, Trakl und anderen bis in die unmittelbare Gegenwart zieht sich der narrative Faden, der die Passion des Westens für die islamische Kultur herausstellt.

Der Schriftsteller Mathias Enard, der für seinen Roman „Kompaß“ 2015 mit dem Prix Goncourt, dem höchsten Literaturpreis Frankreichs, ausgezeichnet worden ist, reiht sich mit seinem Versuch ein, die wechselseitigen Bezüge der Kulturräume hervorzuheben. Enard personifiziert die sich überlappenden Identitäten. Der Franzose, der hervorragend die deutsche Sprache beherrscht, lebt in Barcelona und betreibt dort ein libanesisches Restaurant. Die Feuilletons feierten ihn als „Anti-Houellebecq“. 

Volkspädagogische Verharmlosung

Enards Protagonist, der Musikwissenschaftler Franz Ritter, liegt krank und schlaflos im Bett. Er erinnert sich an Orte seiner Forschungsreisen (Istanbul, Damaskus, Aleppo, Palmyra), die er mit seiner großen Liebe, der Orientalistin Sarah, in Verbindung bringt. L’orient c’est nous – so lautet das Motto des Romans. Die Fülle von Beispielen, nicht zuletzt in Form von Biographien diverser Brückenbauer zwischen den Kulturen, besticht. Die Generierung von Identität wird maßgeblich als von außen inspiriert betrachtet. Blickt man jedoch auf die Gegenwartslage, wirkt der Inhalt wie ein Stück volkspädagogischer Verharmlosung. Habt euch lieb, ihr Verschiedenen! Es kann ja nicht so schwer sein, die Unterschiede zu überwinden! Solche Appelle wirken eher naiv, was aber die narrativen Fähigkeiten Enards nicht schmälern soll. Seine Erzählweise erinnert ein wenig an die farbenfrohe Schilderung von „1001 Nacht“.

Ritter besichtigt nicht zufällig von Wien aus sein Leben. Schon vor 1914 war die Hauptstadt Österreich-Ungarns für damalige Verhältnisse relativ multikulturell, was teilweise heftige Widerstände hervorrief. Enard arbeitet mit der Technik des Bewußtseinsstromes; daher die oft ausschweifenden Gedankengänge, die sprachlich hervorragend vermittelt werden. Ebenso wie James Joyce den Leser in einem Tag durch Dublin führt, so assoziiert auch Enard in diesem Zeitraum vieles Erlebte. Allerdings gibt es bei einer solchen Vorgehensweise natürlich nur wenig Handlungsfortschritte. Das macht die Lektüre mitunter etwas schwierig.

Im Vordergrund stehen Einflüsse orientalischer Komponisten auf die abendländische Welt. Auch auf den Austausch von Literatur, Malerei und Architektur nimmt der Verfasser immer wieder Bezug. Sarah, seine Liebe, begleitet er an entlegene Stätten und trifft sie immer auf Konferenzen. Erst später wird er mit ihr intim. Joseph von Hammer-Purgstall, der Begründer der österreichischen Orientforschung, und Leopold Weiß, ein aus Galizien stammender Jude, der als arabisierter Muhammad Asad das Buch „Der lange Weg nach Mekka“ veröffentlichte, gehören zu den aufregendsten der vorgestellten Persönlichkeiten. Die Schweizerin Annemarie Schwarzenbach, die mit dem Auto den Orient erkundete, findet genauso Eingang in den Erinnerungsstrang Ritters wie die Dichter Friedrich Rückert, der überdies als Übersetzer und Orientalist wirkte, und Goethe. Doch werden nicht nur Leuchtpunkte analysiert; auch einer der Väter der modernen Rassenlehre, Arthur Gobineau, findet Erwähnung, da er zeitweise als Diplomat Frankreichs am persischen Hof wirkte. Des Autors stupende Bildung ist einer der Pluspunkte des Romans.

Das letzte Wort ist nicht von ungefähr „Hoffnung“. Hier schwingt ein Wunsch Enards mit: Die Nähe zwischen Abend- und Morgenland, von Ritter und Sarah personifiziert und historisch faktenreich belegt, solle trotz aller Dissonanzen auch in Zukunft gepflegt, ja sogar noch intensiviert werden. Freilich läuft die Beziehungsgeschichte des Paares, das keines ist, mit der Absicht des Autors, die Kulturen müßten sich wechselseitig befruchten und Konflikte eindämmen, keineswegs parallel. Am Ende ist eine Entfremdung der Liebenden unübersehbar, trotz der ausladenden Korrespondenzen.

Einige in der Erzählung wichtige Städte, etwa Aleppo, haben sich dem Menschheitsgedächtnis längst medial als Ruinen eingeprägt. Ohne westliche Einflüsse sind selbst die monumentalen Schäden in den Bürgerkriegsgebieten nicht zu erklären. Den Schutt müssen jene mithelfen zu beseitigen, die ihn auf vielfache Weise angerichtet haben. Zusammenarbeit ist angesagt.

Mathias Énard: Kompaß. Roman Hanser, Berlin 2016, gebunden, 432 Seiten, 25 Euro