© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 31-32/17 / 28. Juli / 04. August 2017

Den Zirkus als Kulisse entlarven
Netzwerke: Der Politikbetrieb darf nicht mit dem Politischen verwechselt werden
Thorsten Hinz

Keine Frage, im Netz schwirren Unrat, Müll und Haß der übelsten Sorte umher. „Asoziale Netzwerke“, schimpfte Konrad Adam kürzlich in dieser Zeitung (JF 29/17). Er ist nicht der einzige. Je nach Temperament schwingen der Ekel des Kulturbürgers, Zorn oder Enttäuschung mit. Für alles gibt es Gründe.

Der Siegeszug des Internets ging mit großen Erwartungen einher. Twitter, Facebook und Google würden die Politik revolutionieren; Partizipation, Emanzipation und Informationsfreiheit ohne Ende stünden in Aussicht. Theorien über „Liquid democracy“, über die hierarchiefreie, transparente, basisorientierte Diskussionskultur und Entscheidungsfindung, wurden kreiert.

Nicht nur das politische, auch das soziale Leben, ja die menschliche Natur würden sich zum Besseren wenden, so die Prognose. Der Internet-Unternehmer Jost Stollmann, den Kanzler Gerhard Schröder zunächst zum Wirtschaftsminister machen wollte, schwärmte 1998 in einem Interview: „Kinder lernen im Internet, Selbstverantwortung zu tragen. Dort können sie angstfrei und geschützt miteinander umgehen. Es gibt phantastische Entwicklungen. Sie können etwa einen ‘Agenten’ von sich selber schaffen, der im Netz ihren Platz vertritt, dort reist, nach Gleichgesinnten sucht. Wenn sie wollen, rufen sie ihn zurück und geben ihm einen neuen Auftrag. Das ist weit entfernt von einer alten institutionellen Denke.“ 

Das war nicht weniger als die massendemokratische Adaption von Schillers „Ästhetischer Erziehung des Menschengeschlechts“: Der schnöde Stofftrieb (der Instinkt, das körperliche Bedürfnis) vereinigt sich mit dem Formtrieb (der geistigen Verfeinerung, dem Streben nach Transzendenz) im ästhetischen Spieltrieb. Jetzt allerdings nicht mehr im Theater oder im Konzert, sondern am heimischen Computer. 

Auf- und abschwellende Erregungskurven

Heute ist man klüger und denkt, soweit es um Politik geht, vor allem an eine gescheiterte Krawallbande namens Piraten-Partei und an Internet-Trolle (darunter gestandene Politiker und sogar Minister), die mit Beschimpfungen und Informationsschnipseln auf- und abschwellende Erregungskurven produzieren. Im übrigen ist statt des Neuen Menschen bloß der alte Adam sichtbar geworden, der selbstbewußter denn je sein „Recht auf Gewöhnlichkeit“ (Ortega y Gasset) postuliert und diese im Schutze der Anonymität potenziert. Scheußlichstes Beispiel ist die Verbreitung von Kinderpornographie.

Andererseits: Wurde nicht zu jeder Zeit so geredet und geklagt, wenn sich etwas änderte? In dem modernen Klassiker „Wir amüsieren uns zu Tode“ von 1985 analysierte der US-Medienwissenschaftler Neil Postman die Verdrängung der Schrift- durch die Fernsehkultur, die „Guckguck-Welt“, und kritisierte die Folgen: Die Aufmerksamkeitsspanne des Rezipienten würde immer kürzer, seine Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge zu erfassen, nähme ab. An die Stelle der Erkenntnis- und Wahrnehmungsanstrengung trete das Zerstreuungsgeschäft. Die Folge sei ein rapider Verfall der menschlichen Urteilskraft.

Mit der Digitalisierung hat sich diese Entwicklung nochmals beschleunigt. Macht sie „aus der Politik einen Zirkus“, wie Konrad Adam meint? Nun, ein „Zirkus“ ist der Politikbetrieb mit seinen Inszenierungen, Schaumschlägereien und Hahnenkämpfen schon vor dem Siegeszug des Internets gewesen. Man darf ihn nicht mit dem Politischen verwechseln, das woanders verhandelt und entschieden wird. Die zuständigen Orte, Gremien und Strukturen zu identifizieren und den Zirkus als Kulisse zu entlarven, ist eine dezidiert politische Aufgabe, bei der das Internet hilfreich sein kann. Man muß sich seiner positiven Möglichkeiten bedienen, anstatt seinen dunklen oder albernen Verführungen zu verfallen. Gewiß, das ist schwierig. Doch in der Fähigkeit, eine Unterscheidung zu treffen, unterscheidet sich die Elite vom Pöbel.