© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 33/17 / 11. August 2017

Exekution der Gemeinschaft
Christian Gerlachs beachtliches Werk über den Mord an den europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg verstört wegen bedenklicher Pauschalverurteilungen
Konrad Löw

Am 22. Mai erinnerte die FAZ zwischern den Zeilen zustimmend in der ausführlichen Besprechung von Christian Gerlachs aktuellem Werk „Der Mord an den europäischen Juden“ an Daniel Goldhagens furiose Anklage der Deutschen als „Hitlers willige Vollstrecker“ von 1996. Wörtlich ist in der Besprechung vom „entfesselten deutschen Vernichtungswillen in allen seinen Ausformungen“ die Rede, der den „alten Kontinent vor bald acht Jahrzehnten heimsuchte“. 

Diese Sicht ist zwar mehrdeutig, doch mit Blick auf die politische Führung des Reiches sicher richtig. Auch mit Blick auf die „Volksgemeinschaft“? Hohe Erwartungen weckt der folgende Satz: „Hier war eine breitgefächerte Exekutionsgemeinschaft am Werke – mitnichten nur eine eindeutig absonderbare Spezies von ‘Tätern’. Bis auf ganz wenige machten alle mit und die Gewalt sich zu eigen.“ Bietet Gerlach, was Goldhagen nur glauben machen wollte? Gab es eine Exekutionsgemeinschaft? Haben „die Massen“ ihr angehört?

Gerlach bietet mehr, als der Buchtitel erwarten läßt. Der erste Teil trägt die Überschrift „Verfolgung durch Deutsche“. In Teil zwei geht es um „Logiken der Verfolgung“. Der dritte und letzte Teil, weit über einhundert Seiten stark, untersucht „Die europäische Dimension“. Wie auch die Besprechung des Dresdner Zeithistorikers Klaus-Dietmar Henke bestätigt, ist das stattliche Opus mit weit über eintausend Anmerkungen und einer Bibliographie von über vierzig Seiten dazu angetan, die öffentliche Meinung nachhaltig zu beeinflussen. Daher ist eine ausführliche sachliche Kritik geboten.

Die Einleitung erinnert an die Gegebenheiten 1939: „Zu jenem Zeitpunkt gab es innerhalb und außerhalb Europas viele deutlich brutalere Regime“ als Hitlers, – was wohl nicht zum stets präsenten Wissen der Allgemeinheit gehört. Nicht minder beachtlich: Gerlach wendet sich gegen die „mißliche Tendenz in Studien über den Nationalsozialismus, den Staat, ‘die Deutschen’, ‘die Polen’ usw. als monolithische Blöcke darzustellen.“

Bleibt er diesem Vorsatz treu? Unscharfe Formulierungen leisten Pauschalurteilen Vorschub, so wenn von „großen Menschenmengen“ die Rede ist, die sich an Aktionen beteiligten, „obwohl wir über sie nur wenig wissen“. Ein „großer Teil der deutschen Gesellschaft akzeptierte (...) die antijüdischen Maßnahmen“. Ist das die Mehrheit? Was sagen die Quellen? „Es gab aber auch Anzeichen, daß keineswegs alle Deutschen die Judenverfolgung in Deutschland unterstützten.“ Gibt es jemanden, der dies bestreitet? Doch wie viele waren das ungefähr? Zehn von hundert oder dreißig? „Nach Ansicht deutscher Beamter verdienten Juden es auch nicht besser.“ Daß es solche Beamte gab, ist schwer zu bezweifeln. Aber wie viele? Ist folgender Satz etwa kein Pauschalurteil, das der Autor doch prinzipiell verurteilt? „So wollte das Personal der Reichsbahn den Deportierten manchmal nicht einmal Trinkwasser geben.“ Genug der Beispiele, um die Kritik zu veranschaulichen.

Auch die nachfolgende Logik will nicht einleuchten: „Dieser Versuch, die mögliche Ausbreitung vom Wissen über die Morde zu begrenzen, scheiterte, da die Aktionen sich unter der einheimischen Bevölkerung und deutschen Funktionsträgern rasch herumsprach.“ Haben denn die Funktionsträger ihr Wissen an die Massen weitergegeben, obwohl sie schriftlich zur Verschwiegenheit verpflichtet worden waren? Falls ja, sicher nur höchst ausnahmsweise. Und die „einheimische Bevölkerung“? 

Kein Nachweis einer „Exekutionsgemeinschaft“ 

Ist es nicht ein Widerspruch, wenn es einerseits heißt: „Ältere Vorstellungen, daß die meisten an Massengewalt beteiligten Deutschen bloß Befehle befolgten, (...) sind heute überholt“ und wenig später, daß sich das Regime veranlaßt sah, „die vielen Vollstrecker mit Nervenzusammenbrüchen fürsorglich zu unterstützen“? Wer aus Lust gemordet hat, den hat der Mord kaum aus der Bahn geworfen. Warum die „ältere Vorstellung“ revidiert wurde, erfährt der Leser nicht, auch nicht durch einen Literaturhinweis.

Resümees sind Sätze wie: „Viele Personen aus fast allen Lebensbereichen und den meisten staatlichen Organen beteiligten sich daran, wenn auch nicht jeder.“ Und: „Bisher gibt es keine Methode, um verläßlich die Zahl jener zu schätzen, die Verfolgungen unterstützten oder ablehnten.“

Die Unebenheiten, auf die eben hingewiesen wurde, sind nebensächlich und können den positiven Gesamteindruck kaum schmälern. Doch skandalös ist, daß der Autor die wichtigsten Quellen gänzlich ausblendet, nämlich die jüdischen Zeitzeugen. Zwar sind die meisten längst gestorben, aber Hunderte haben ihre Erfahrungen zu Papier gebracht, sinngemäß mit den Worten der Auschwitz-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch: „Ihr sollt die Wahrheit erben!“ Die Lektüre ihrer geistigen Hinterlassenschaft ist doch geradezu eine moralische Pflicht. Sie erlaubt es, die Zahl der willigen Vollstrecker sachlich fundiert abzuschätzen. 

Der namhafteste Chronist jener sinistren Jahre ist Victor Klemperer, dessen einschlägige Tagebuchaufzeichnungen acht Bände füllen. Wochen nachdem er verpflichtet worden war, den Judenstern zu tragen, lautete die Summe seiner täglichen Erfahrungen am Arbeitsplatz, beim Einkauf, in der Straßenbahn: „Fraglos empfindet das Volk die Judenverfolgung als Sünde.“ Fast wortgleich Jochen Klepper, der freiwillig das Los seiner jüdischen Frau und seiner Stieftochter „Renerle“ auf sich nahm und in der Nacht vor der verfügten Deportation zusammen mit ihnen den Freitod wählte. Sein Urteil über seine Nachbarn und Bekannten: „Das Volk ist ein Trost.“ Inge Deutschkron, eine der letzten noch lebenden Zeitzeugen: „Vor den Berlinern hatte ich keine Angst.“ Aus dem Hessischen stammt Heinemann Stern, dessen Aufzeichnungen der folgende Dialog aus dem Jahre 1938 entnommen ist: „Das Volk? Was soll ich Ihnen da sagen? Das Volk wird hin und her geworfen zwischen Bewunderung der außenpolitischen Erfolge und Entsetzen über die inneren Zustände.“ Dazu Stern: „Dieses Gesamturteil erscheint mir so klug und treffend die Situation zu charakterisieren, daß ich kein Wort hinzufügen möchte.“  

Gerlach kann die Existenz einer „Exekutionsgemeinschaft“ nicht stichhaltig nachweisen. Sie ist ein infames Gespenst des Zeitgeistes, dem nicht nur diese Aussagen der Zeitzeugen geopfert werden, um den in der Hitler-Diktatur lebenden Deutschen skrupellos eine Kollektivschuld zuzusprechen.






Prof. Dr. Konrad Löw lehrte Politikwissenschaft an der Universität Bayreuth. Er ist Autor des Werkes „Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen“ (München 2010).

Christian Gerlach: Der Mord an den europäischen Juden. Ursachen, Ereignisse, Dimensionen. Verlag C.H. Beck, München 2017, gebunden, 576 Seiten, 34,95 Euro