Woher nimmt der Mann bloß seinen Optimismus? „Ich rechne damit, daß ich eine gute Chance habe, die nächste Bundesregierung anzuführen“, sagte Martin Schulz am vergangenen Sonntag im ZDF-Sommerinterview. Dabei sieht die Lage für den Kanzlerkandidaten der SPD ziemlich düster aus: Seit Monaten dümpelt seine Partei in den Umfragen bei unter 25 Prozent herum, der vielbeschworene „Schulz-Effekt“ ist längst Geschichte. Von Wechselstimmung keine Spur – und dann auch noch das Debakel in Niedersachsen ... Dennoch ist der SPD-Chef zuversichtlich: „Ich werde Kanzler.“ Vielleicht hat er nur in jüngster Zeit zu oft die Parteihymne („Wann wir schreiten Seit’ an Seit’“) gesungen, um der Autosuggestion verfallen zu sein? „Fühlen wir, es muß gelingen ...“
Nein, danach sieht es nicht aus. Und die Gründe dafür sind weitestgehend selbst gemacht. Das Thema der SPD – „soziale Gerechtigkeit“, pauschal und unbestimmt – berührt viele Wähler nicht; und was viele Wähler umtreibt – die Einwanderung und ihre Folgen –, faßt die SPD nicht an. Oder genauer: Sie hat es zu spät entdeckt; ihre programmatischen Aussagen sind widersprüchlich und somit unglaubwürdig.
Schulz selbst belegt dies. Seine Partei beharrt auf einem weitgehenden Abschiebeschutz auch für Einwanderer, denen weder der Asyl- noch der Flüchtlingsstatus zusteht. Der Kanzlerkandidat machte sich verbal stark, straffällige Einwanderer leichter abzuschieben und kritisiert Merkels Tatenlosigkeit angesichts der sich erneut abzeichnenden Migrationswelle: „Wer auf Zeit spielt und versucht, das Thema bis zur Bundestagswahl zu ignorieren, verhält sich zynisch.“ Starke Worte. Von jemandem an der Spitze einer Regierungspartei, die nicht gerade als Bremsklotz in Sachen „Willkommenskultur“ wirkte.
Die klugen Leute von links haben dieses Dilemma der SPD (und vergleichbarer Parteien in Westeuropa) längst erkannt. Marcus Roberts zum Beispiel, ehemaliger Generalsekretär der Fabian Society in Großbritannien und Kampagnenmitarbeiter der Labour-Party, stellte in einem Interview mit dem Journal Internationale Politik und Gesellschaft kürzlich fest: „Die Einwanderungspolitik ist zu einer großen Herausforderung für Mitte-links-Parteien geworden, weil die Trennlinie zwischen Begeisterung für und Sorge um Einwanderung mitten durch sie verläuft.“ Auf kaum einem anderen Politikfeld wird deutlich, wie sehr sich die Sozialdemokraten von ihrer ursprünglichen Wählerschaft und Zielgruppe entfernt und einer anderen zugewandt haben: dem Milieu der linksliberalen Mittelschicht. Hier ist die Zustimmung für eine „offene“ Zuwanderungspolitik besonders groß. Dieser bürgerliche Flügel der linken Mitte habe lange den Ton angegeben, so Roberts. Nicht mehr die Arbeiterschicht oder kleine Angestellte, sondern „urbane Liberale, Angehörige von Minderheiten oder der LGBTTIQ-Community, Aktivisten aus Nichtregierungsorganisationen“ stünden programmatisch im Mittelpunkt, meint auch der slowakische Philosoph und linke Nationalratsabgeordnete Luboš Blaha.
Mit diesem Wandel einher gehe die besorgniserregende Tendenz, die Ansichten und Ängste der unteren sozialen Schichten zu verachten, anstatt sie ernst zu nehmen. Weil sie nicht so kosmopolitisch ticken und Grenzen nicht für überholt halten. Weil sie sich Sorgen machen, daß neue Geringqualifizierte den alten Konkurrenz machen; nicht nur auf dem Arbeits-, sondern auch auf dem Wohnungsmarkt.
Das Unverständnis, ja zuweilen die Verachtung für diese Ängste rührt auch aus Unkenntnis. Denn die Bildungsbürger halten sich in der Regel fern von den Stellen, an denen „die Integrationsküche wirklich heiß dampft, in den Schulen Neuköllns, in der Warteschlange der Arbeitsagentur in Essen-Nord oder in den Reinigungs- und Zeitarbeitsfirmen“, wie es der grüne Querkopf Boris Palmer jüngst so zutreffend beschrieben hat.
Daß die Linksliegengelassenen sich daher dem „Rechtspopulismus“ zuwenden, stellte nun die Hans-Böckler-Stiftung fest, die dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) nahesteht und damit ausreichend sozialdemokratischen Stallgeruch verströmt. Ein Großteil der AfD-Wähler stammt, so eine aktuelle Studie der Stiftung, aus der unteren Mittelschicht, die Berufsgruppe der Arbeiter ist überrepräsentiert. Motive dafür: Abstiegsängste, das Gefühl, von Politik oder Institutionen nicht in ausreichendem Maße vertreten zu werden und ein „sorgenvoller Blick in die Zukunft des Einwanderungslandes Deutschland“. Damit verbunden ist die Angst vor Terrorismus und vor Zunahme der Kriminalität. Das „Schicksal der Flüchtlinge“ bereitet nur 39 Prozent der Befragten Kopfzerbrechen. Auch gesellschaftspolitisch tickt das Arbeiter- und Gewerkschaftsmilieu „rechter“ als die SPD: Hohe Zustimmungswerte erzielen das „Festhalten am Bewährten“, Nationalbewußtsein sowie der Wert von „Recht und Ordnung“. Ganz hinten rangieren dagegen „Weltoffenheit und Toleranz“.
Will die SPD überleben und wieder gedeihen, müßte sie sich, anstatt dem Mainstream der liberalen Mittelschicht zu folgen, auf die Seite der deutlich konservativeren Arbeiter schlagen. Auch und gerade beim Brennpunktthema Einwanderung. Für eine Obergrenze gibt es gute sozialdemokratische Argumente. Eines davon lautet Solidarität; mit denen, die von den Auswirkungen stärker betroffen sind.
Versuchen Martin Schulz und seine SPD weiter, sich wie jetzt im Wahlkampf irgendwie durchzumogeln, werden sie weder die modernen Linksliberalen noch die traditionelle Zielgruppe überzeugen. Wie heißt es noch in der Parteihymne weiter? „Eine Woche Hammerschlag / eine Woche Häuserquadern / zittern noch in unsern Adern ...“ Von Hörsälen, Amtsstuben und Lehrerzimmern ist dort nicht die Rede, von Reihenhäusern und Altbauwohnungen auch nicht.