Elidnch wrid draüebr gscerhepon, dsas das Sceiherbn ncah Geöhr für die Kidner nicht von Vtiorel ist.“ So spottet ein Leser im Berliner Tagesspiegel über die pünktlich zum Schuljahresbeginn neu aufgeflammte Debatte über das „Schreiben nach Gehör“ oder „Lesen durch Schreiben“.
Dieses in den siebziger Jahren von dem Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen entwickelte Konzept ist seit Ende der neunziger Jahre in Deutschland weit verbreitet, wird aber von vielen Eltern abgelehnt. Kernstück ist dabei die sogenannte Anlauttabelle. Bei dieser ist jedem Buchstaben ein Tier oder Gegenstand zugeordnet, der mit diesem Buchstaben beginnt. Die Erstkläßler bauen Buchstabe für Buchstabe ihre Worte zusammen und konstruieren Sätze wie „Peta get mit sainem fata in den tso“ oder „Ch hap dij lip“.
Ein korrigierendes Eingreifen der Eltern ist unerwünscht. Die Kinder sollen Spaß haben und mit schnellen Erfolgen motiviert werden. Rechtschreibregeln werden bewußt ignoriert.
Jahrzehntelang war ausgerechnet die Existenz der DDR die Garantie dafür, daß die westdeutschen Reformpädagogen mit ihren Vorschlägen für neue Lese- und Schreibtechniken an den Grundschulen kein Gehör fanden. Erst mit der Wiedervereinigung brachen die Dämme und eine noch unter den Nationalsozialisten 1944 ausgearbeitete Rechtschreibreform konnte umgesetzt werden. Parallel dazu wurde das bewährte Erlernen des Lesens und Schreibens Buchstabe für Buchstabe mit der Fibel an vielen Grundschulen durch verschiedene „Lernen nach Gehör“-Experimente ersetzt. Seitdem können in vielen Bundesländern die Lehrer entscheiden, wie sie „ihren“ Kindern das Schreiben beibringen. Gleichzeitig streiten sich die Experten darüber, welche Methode die bessere ist. Gegner sind sich sicher, daß das „Schreiben nach Gehör“ ein „haarsträubendes Konzept ist, das Bildungsfortschritte behindert, die soziale Ungleichheit verstärkt und angesichts der Migrationswelle nicht mehr zeitgemäß ist“, wie auf der Internetseite beamten-inforportal.de nachzulesen ist.
Für den Reformpädagogen Hans Brügelmann, der einst als Professor in Siegen lehrte, ist es dagegen hinreichend nachgewiesen, daß das freie Schreiben Schüler zu besserem Ausdruck, lebendigeren Texten und deutlich längeren Aufsätzen ermutigt hat. Und die Kultusministerkonferenz schreibt in ihren Empfehlungen zur Arbeit an Grundschulen: „Das Kind wird ausgehend von seinen lautorientierten Verschriftungen von Anfang an systematisch an das orthografisch korrekte Schreiben herangeführt.“ Der Vorteil des „Lesens durch Schreiben“ sei, daß die Erstkläßler mit der Anlauttabelle „die Möglichkeit haben, im Grunde sofort alles zu schreiben und zwar genau so, wie sie es hören“, sagt die Sprachwissenschaftlerin Iris Meißner, die an der Universität Koblenz-Landau angehende Lehrer unterrichtet. Wichtig sei dabei, daß die Lehrer wissen, wie die Prinzipien des Spracherwerbs im Deutschen funktionieren. In vielen Bundesländern fehlen aber gut ausgebildete Grundschullehrer.
Oft sei es erschreckend, wie wenig manche Grundschullehrer über die Prinzipien der Rechtschreibung wissen, sagt Wolfgang Steinig. Der Germanistikprofessor an der Universität Siegen hatte 2013 mit einer Studie für Aufmerksamkeit gesorgt, in der Schulaufsätze von Viertkläßlern der Jahre 1972, 2002 und 2012 verglichen wurden. Danach hatte sich die Rechtschreibung verschlechtert: Lag die Fehlerquote 1972 bei sieben Prozent, so war sie 2012 auf 17 Prozent gestiegen.
Die Zeit, um Rechtschreibroutinen zu erwerben, habe sich deutlich verringert, kritisiert selbst Reformer Brügelmann. Das Mündliche, Projektarbeiten und Referate hätten mehr an Gewicht gewonnen. Verlierer der Reformmethode sind jene, denen sie ursprünglich helfen sollte: Kinder aus sozial schwachen, eher bildungsfernen Familien machen heute wesentlich mehr Fehler beim Schreiben als vor 30, 40 Jahren, geht aus der Studie hervor. Ebenso benachteiligt sind Erstkläßler aus Regionen mit starkem Dialekt oder mit Migrationshintergrund.
Mehrere Bundesländer haben inzwischen die Notbremse gezogen. In Hamburg, wo die Methode ursprünglich entwickelt wurde, ist sie untersagt worden. Offenbar hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß „Kinder richtiges Schreiben nicht mit Hilfe genialer Unterrichtsmethoden im Vorbeigehen lernen“, sondern Rechtschreibung „echt geübt werden muß“, sagt Hamburgs Schulsenator Ties Rabe (SPD).
Eltern sollten ihren Kindern viel vorlesen
In Baden-Württemberg hat Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) den Grundschulen Lehrmethoden verboten, bei denen Kinder nicht auf die richtige Schreibweise achten müssen. Auch Karin Prien (CDU), Bildungsministerin von Schleswig-Holstein, hat „große Skepsis gegenüber der Methode Lesen durch Schreiben“. In Nordrhein-Westfalen läßt Ministerin Yvonne Gebauer (FDP) gerade prüfen, ob das Schreiben nach Gehör verboten werden soll. In Sachsen betrachten die Regierungsfraktionen von CDU und SPD das Modell ebenfalls mit Argwohn. In Sachsen-Anhalt, wo die meisten Lehrer auf das Lesen- und Schreibenlernen mit der Fibel setzen, hält Kultusminister Marco Tullner (CDU) ein Verbot des freien Schreibens für überflüssig: „Ich verordne keine Einheitsmethoden.“
Selbst in Hessen, wo viele Lehrer mit Anlauttabellen arbeiten und eine Kinderschreibweise propagieren, gibt es ein erstes Umdenken. Das Kultusministerium hat die Schulen aufgefordert, von Anfang an auf ein korrektes Schreiben zu achten. Sprachwissenschaftlerin Meißner rät Eltern, Verantwortung zu übernehmen. Sie sollten ihren Kindern zeigen, wie sie selbst mit Sprache und Schrift umgehen, Sprachspiele spielen und viel vorlesen.