© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Unsicherheit, das nicht kalkulierbare Risiko
Wirtschaftstheorie: Fatales Vertrauen auf Prognosen / Fehlanreize einer „Ethik der Verantwortungslosigkeit“
Dirk Meyer

Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – diese Redensart des schottischen Dichters Thomas Campbell (1777–1844) trifft vielfach leider nicht zu. Der Fall der Mauer 1989, der Anschlag auf das World Trade Center 2001, die Lehman-Pleite und die nachfolgende Finanzmarktkrise 2008, die de facto Griechenland-Insolvenz 2010 und das Brexit-Votum: Jedes dieser Ereignisse trat plötzlich, unerwartet und vor allem für uns völlig unvorbereitet in die Welt.

Hilflos waren die ersten Reaktionen – mit Konsequenzen für den übereilt eingeschlagenen Weg. Ähnliche Beispiele gibt es auf Unternehmensebene. Der 2015 in den USA bei VW-Diesel-Pkws aufgedeckte Abgasskandal, explodierende Airbags von Takata, Strafzahlungen der Deutschen Bank fast in Höhe ihres Eigenkapitals, selbstentzündende Akkus bei Samsungs Note-7-Smartphones: Die Firmen stehen vor einem Scherbenhaufen, für den global produzierenden Autozulieferer Takata laufen in Japan und den USA Insolvenzverfahren. Das „Dieselgate“ hat inzwischen auch weitere Automobilhersteller erfaßt und die Motorentechnologie in Verruf gebracht. Was unterscheidet die Qualitätssicherung bei eingeführten Produkten von technischen Neuerungen? Was unterscheidet die Folgen eines normalen Konjunkturrückganges für die Steuereinnahmen von denen eines unerwarteten Zinsanstiegs für italienische Staatsanleihen nach den dortigen Wahlen, der bei einer Staatschuldenquote Italiens von 132 Prozent des BIP als Zeichen eines massiven Vertrauensverlustes in die Rückzahlfähigkeit letztlich zum Austritt Italiens aus der Währungsunion führt?

Ökonomische Steuerung „durch den Rückspiegel“?

In seinem 2016 erschienenen Buch „The End of Alchemy: Money, Banking and the Future of the Global Economy“ erinnert der frühere Präsident der Bank of England, Mervyn King, an die Unterscheidung von Risiko und Unsicherheit, die bereits 1921 von Frank H. Knight in seinem Buch „Risk, Uncertainty and Profit“ thematisiert wurde. Für Risiken kann man Wahrscheinlichkeiten kalkulieren, und die relevanten Konsequenzen sind bekannt. Basierend auf Erfahrungen und unveränderten Rahmenbedingungen ist eine Steuerung „durch den Rückspiegel“ möglich. Damit können statistische Analysen und ökonometrische Modelle erstellt werden, die Prognosen über die Zukunft mit einiger Sicherheit zulassen – im obigen Fall die Steuerschätzung.

Demgegenüber sind die Folgen des Austritts eines großen Landes aus der Eurozone weder abschätzbar noch im einzelnen bekannt. Es gibt keinen derartigen Präzedenzfall. Genau diese Lage bezeichnet die Unsicherheit. Ergänzend bringt der Soziologe Niklas Luhmann den Begriff der Gefahr in die Überlegung ein, bei der es sich um von außen kommende Schäden handelt. Die zu Beginn genannten Beispiele belegen, daß ein Großteil der Schadenfälle nicht nur Unsicherheiten, sondern zugleich Gefahren darstellen. Dritte müssen zwangsweise die Kosten tragen, häufig die Bevölkerung. Sowohl für die Folgen der Finanzmarktkrise wie auch für die Rettungskredite und die Nullzinspolitik stehen die Steuerzahler und Sparer ein.

Was sind die Ursachen der gerade in den letzten Jahrzehnten vermehrt auftretenden Unsicherheits-Großereignisse? Die Stichworte heißen Entgrenzung, Kostensozialisierung und Selbstermächtigung. Die Globalisierung hat zu einer Entgrenzung geführt, die nicht nur die Verbreitung von Informationen beschleunigt und den Wettbewerb intensiviert hat. Gleichzeitig hat die Bedeutung nationaler Grenzen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft stark abgenommen.

Staatenkooperationen wie die EU, der Verband Südostasiatischer Nationen (Asean) oder die Afrikanische Union (AU), die Verschmelzung der Finanzmärkte, ein weitgehend behinderungsfreier internationaler Handel und der Austausch durch Reisen, Zuwanderung oder Flucht haben die Welt enger zusammengeführt. Ohne die vielen Vorteile schmälern zu wollen, lassen sich Krisen deshalb nicht mehr eingrenzen und damit beherrschbar machen. Internationale Finanzmarktkrisen, die nationale Überforderung durch Flüchtlingsströme oder Pandemien geben Beispiele.

Dezentralität, Haftung und mehr Wettbewerb

Eine weitere Ursache liegt in den Fehlanreizen einer „Ethik der Verantwortungslosigkeit“ begründet: Banker-Boni, die Gewinne honorieren, aber Verluste ungestraft passieren lassen; eine Euro-Rettung, die den Nutzen nationalisiert, aber die Kosten vergemeinschaftet; eine Öffnung der Grenzen für Flüchtlinge weitgehend ohne Rechtsgrundlage und als Selbstermächtigung ohne die Einholung der parlamentarischen, haushaltsrechtlichen Zustimmung für die jährlich rein monetären Kosten von geschätzt 17 bis 55 Milliarden Euro. Dies sind Belege für eine Abkehr vom Grundsatz der Übereinstimmung von Entscheidung und Haftung. Hinzu kommt ein Demokratieversagen, bei der die politische Führung manchen Sensor für Kritik und Unmut aus der Gesellschaft entweder verloren oder abgeschaltet hat.

Wie können Fehlerkatastrophen als Folgen derartiger Ereignisse vermieden werden? Dezentralität, Haftung und Wettbewerb sind wichtige ordnungspolitische Strukturen. Dezentralität fördert die Vielfalt an Informationen und Einschätzungen über Schadenpotentiale. Das Prinzip Haftung unterstützt die Anreize zu einer realistischen Abwägung von Kosten und Nutzen einer Entscheidung. Zugleich werden die Schadenpotentiale aufgrund der Kostenzurechnung tiefgründiger untersucht. Wettbewerbliche Strukturen belohnen im Regelfall die bessere Lösung.

Fach- und ressortübergreifende Denkzirkel, sogenannte Think Tanks, können Szenarien und mögliche Reaktionen auf Schadenfälle vorwegnehmend durchspielen und den Umgang mit drohenden Fehlerkatastrophen einüben. Ideengenerierung ist das Stichwort. Die bewußte Zulassung von Produktivitätsreserven ermöglicht Puffer und Reserven für Schadenfälle. Der Zustand des „energiegewendeten“ deutschen Stromnetzes nahe der Überlastgrenze gibt ebenso ein Gegenbeispiel wie die Hebung letzter Produktivitätsreserven in Unternehmen.

Schließlich gilt es, Alternativen für eine entwicklungsoffene Zukunft bereitzuhalten. Um der „Alternativlosigkeit des Euro“ im Falle eines chaotischen Zusammenbruches der Eurozone ausweichen zu können, wäre beispielsweise ein Parallelwährungssystem nützlich. Schließlich sollte das begrenzte Experiment mit dem (geplanten) Irrtum als Methode gerade im Rahmen der sozialen Sicherung beachtet werden – einer immer lautstärker geforderten europäischen Sozialunion wäre hier klar zu widersprechen.



Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.