© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Abstoßendes Verhalten
Die Bilder der Ausschreitungen gegen ein Asylbewerberheim in Rostock-Lichtenhagen gingen vor 25 Jahren um die Welt
Thorsten Hinz

Die Ausschreitungen zwischen dem 22. und 26. August 1992 vor dem Asylbewerberheim und einer Ausländerunterkunft in Rostock-Lichtenhagen sind ausführlich dokumentiert. Zwei- bis dreihundert Jugendliche attackierten die Gebäude und die anrückende Polizei  mit Steinen, Leuchtmunition und Molotowcocktails. Das Gejohle von 2.000 Anwohnern, die sich zu einem regelrechten Mob formiert hatten, bildete die Begleitmusik. Schauriger Höhepunkt war das Feuer im Wohnheim von vietnamesischen Vertragsarbeitern. Es war Glück und ihrer Geistesgegenwart zu verdanken, daß niemand erstickte oder verbrannte.

Ein Foto aus jenen Tagen zeigt einen Mann mittleren Alters, seine Jogginghose ist anscheinend urindurchnäßt. Er trägt ein Fußballtrikot mit schwarzrotgoldenen Bruststreifen, in dem die deutsche Nationalmannschaft 1990 Weltmeister wurde. In der linken Hand hält er eine Bierdose, die rechte ist zum Hitlergruß erhoben. Das Bild des „Grüßers von Rostock“ wurde zur Ikone und löste ein heimliches Frohlocken aus: Der häßliche Einheitsdeutsche, vor dem die Linke vergeblich gewarnt hatte, war endlich aus der Larve geschlüpft und hatte einen „rassistischen Pogrom“ ausgelöst.

2014 drehte der Regisseur Burhan Qurbani den Kinofilm „Wir sind jung. Wir sind stark“. Er zeigt, „wie rassistische Gewalt in Deutschland Normalzustand wurde. Als die Macher vor Jahren mit den Recherchen für ihren Film begannen, war vom NSU noch keine Rede. An Orten wie Lichtenhagen liegt sein Ursprung“ (taz). Gudrun Heinrich von der Arbeitsstelle Politische Bildung der Universität Rostock, die „Lichtenhagen“ zum Gegenstand ihrer Profession gemacht hat, sieht gleichfalls in „fremdenfeindlichen und rassistischen Einstellungen“ und „fehlenden alltäglichen Erfahrungen mit Fremdheit“ die Ursache für die Krawalle (Ostseezeitung, 26. Juli 2017).

Die Vorgeschichte wird gewöhnlich unterschlagen

Zum Primärkonflikt, der ein politischer ist, dringen weder Politikwissenschaftler noch Journalisten, noch Künstler vor: zum Versagen des Staates, der wegen ideologischer Blockaden außerstande war – und ist –, die Bevölkerung gegen fremde Zudringlichkeiten zu schützen. Die fatalen Reaktionen darauf waren ein sekundäres Phänomen und letztlich ein Ausbruch von Verzweiflung. Diese ebenfalls gut dokumentierte Vorgeschichte wird gewöhnlich unterschlagen.

Gleich nach dem Mauerfall waren die Asylzahlen nach oben geschnellt und betrafen auch die DDR beziehungsweise die „neuen Länder“. Die Ex-DDR-Bürger gerieten zwischen die Fronten eines Kulturkampfes, der zu dem Zeitpunkt eine ausschließlich westdeutsche Angelegenheit war. Die einen sahen in der Wiedervereinigung die Rückkehr zur nationalstaatlichen Normalität. Die anderen wollten an ihrer Vision von einer postnationalen Republik und am schrankenlosen und weltweit singulären Asylrecht festhalten. Da für eine Änderung eine Zweidrittelmehrheit nötig war, befanden sie sich in einer Blockadeposition. Unterdessen stieg die Zahl der Asylbewerber auf über 400.000 im Jahr.

Das Land Mecklenburg-Vorpommern richtete 1991 in Rostock-Lichtenhagen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylanten (ZAST) im sogenannten Sonnenblumenhaus ein. Der Name leitete sich von dem großen Sonnenblumen-Mosaik an der Schmalseite ab: Kunst am Bau, die die Ödnis der Plattenbausiedlung ein wenig freundlicher machen sollte. Doch freundlich war hier gar nichts mehr. Die Einheitseuphorie war verflogen, die Arbeitslosigkeit lag bei zwanzig Prozent. Die kommunalen und Landesbehörden waren gerade erst im Aufbau begriffen, die Politiker überfordert. Die Bürger fühlten sich vom Personal aus dem Westen kolonisiert. In diese brisante Gemengelage exportierte die alte Bundesrepublik ihre fehlgesteuerte Ausländerpolitik.

Ein Anwohner des Sonnenblumenhauses erinnert sich, daß täglich fünfzig bis siebzig Asylbewerber mit dem Bus herangeschafft wurden, hauptsächlich rumänische Zigeuner. Schon bald war die ZAST überfüllt. In Lichtenhagen spielten sich haarsträubende Szenen ab. Der Supermarkt nebenan wurde regelrecht geplündert. Zigeunerfrauen betraten mit ihren langen weiten Röcken das Geschäft und kamen mit verdoppeltem Körperumfang wieder heraus. Die Kinder verrichteten in den Regalen ihre Notdurft. Wer dagegen einschritt, wurde von ihren männlichen Angehörigen, die am Eingang herumlungerten, angegangen. Passanten wurden angepöbelt. Auf den Balkons der ZAST wurden aus zerschlagenen Möbeln Lagerfeuer entfacht und gefangene Möwen gebraten.

Soviel zur alltäglich erfahrenen Fremdheit, die lange mit strapazierter Geduld ertragen wurde. Als sich jedoch nach Wochen trotz zahlloser Beschwerden bei der Stadt und beim Land nichts änderte, schlug die Stimmung in Wut um. Obwohl die ZAST längst überfüllt war, trafen täglich weitere Busladungen ein. Die Asylanten kampierten schließlich im Freien unter den Büschen und Zierhölzern, wo sie auch ihre Notdurft verrichteten. Jeden Morgen mußten städtische Reinigungskräfte die Exkremente zusammenkehren und entsorgen.

Man konnte sogar in der Lokalpresse nachlesen, daß die Situation bald explodieren würde. Am 22. August gab es vor dem Sonnenblumenhaus Demonstrationen, die schnell eskalierten. Die wenigen Polizisten waren machtlos und überfordert. Am Nachmittag des 24. August wurde die ZAST evakuiert, doch die Erregung hatte eine Eigendynamik gewonnen, die nicht mehr aufzuhalten war und sich gegen das benachbarte Wohnheim der Vietnamesen richtete. Mit ihnen hatte es weder vor noch nach 1989 irgendwelche Konflikte gegeben. Erst zusätzlich herbeigerufenen Polizeieinheiten aus Schwerin, Hamburg und dem Bundesgrenzschutz gelang es, die Situation unter Kontrolle zu bringen.

Nach 25 Jahren wird ganze Gedenkwoche begangen

Der damalige stellvertretende Oberbürgermeister Wolfgang Zöllick bleibt bei seiner Auffassung, daß zunehmend Neonazis aus dem Westen das Heft in die Hand nahmen. „Am Rand standen schwarze Limousinen. Von dort kamen die Kommandos“, äußerte er in der Ostseezeitung. Unter anderem wurden Ewald Althans gesichtet, der sich bald als V-Mann des Verfassungsschutzes herausstellte, und der dubiose Ingo Hasselbach, der kurz danach eine internationale Medienkarriere als „Nazi-Aussteiger“ und angeblicher „Führer-Ex“ begann.

Gerüchte, die Behörden hätten die Situation absichtlich eskalieren lassen, um die SPD zu zwingen, einer Asylrechtsänderung zuzustimmen, kursieren bis heute. Der Schweriner Innenminister Lothar Kupfer (CDU) erklärte damals: „Die Rechten haben bewirkt, die Politiker dafür zu sensibilisieren, daß das Asylrecht eingeschränkt wird und daß das Sicherheitsgefühl an erster Stelle steht – nicht nur in Ostdeutschland.“

Der 25. Jahrestag der Randale wird in Rostock zur zivilreligiösen Indoktrination genutzt. Eine Arbeitsgruppe „Gedenken“ hat eine „Gedenkwoche“ mit Podiumsdiskussionen, Andachten und diversen Veranstaltungen vorbereitet. An fünf zentralen Orten wird je eine Marmorstele aufgestellt. Sie heißen „Politik“, „Medien“, „Gesellschaft“, „Staatsgewalt“ und „Selbstjustiz“ und sollen ein „dezentrales Gedenken“ ermöglichen.
 
Jugendliche werden die Einweihungen innerhalb des Projekts „Lichtenhagen im Gedächtnis“ mit der Kamera begleiten. Workshops für die Schulen werden erarbeitet, ein „Lichtenhagen-Archiv“ wird aufgebaut. Am 26. August organisiert der Verein „Bunt statt braun“ vor dem Sonnenblumenhaus einen „Tag der Vielfalt“. Die Universität hat gemeinsam mit parteinahen Stiftungen eine Vorlesungsreihe veranstaltet.

Der häßliche Einheitsdeutsche war der damals 38jährige arbeitslose Baumaschinist Harald Ewert. Er beharrte darauf, daß die Hose durch verkipptes Bier durchnäßt worden sei. Den rechten Arm hätte er automatisch, aus der Situation heraus, erhoben. Ewert war das sprichwörtliche „arme Schwein“, das dumm genug war zu tun, was die medialen Zoowärter von ihm erwarteten. Er ist längst am Suff gestorben. 25 Jahre danach verwandelt sich ganz Deutschland in eine ZAST. Die Deutschen verharren in Duldungsstarre. Sie sind alt. Sie sind schwach.