© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 34/17 / 18. August 2017

Der überdehnte Scheitelpunkt
Im August 1942 eroberten deutsche Gebirgsjäger den Elbrusgipfel / Die Aktion im Kaukasus entpuppte sich als Propagandacoup wider Willen
Thomas Schäfer

Am 21. August 1942 bekam Hitler einen der wohl heftigsten Tobsuchtsanfälle seines Lebens. Diesmal entzündete sich der Zorn des „Führers“ an der Hissung der Reichskriegsflagge auf dem höchsten Berg des Kaukasus beziehungsweise Rußlands, dem Elbrus (5.642 Meter), durch 21 handverlesene Angehörige der 1. und 4. Gebirgsdivision der Wehrmacht. Wie der Reichsminister für Bewaffnung und Munition Albert Speer später in seinen Erinnerungen schrieb, soll der Diktator voll rasender Wut auf die „verrückten Bergsteiger“ unter Hauptmann Heinz Groth und dem Heeresbergführer Gämmerler gewesen sein. Denn die hätten es doch tatsächlich für wichtiger gehalten, „einen idiotischen Gipfel“ zu besteigen, als an den Kämpfen um die strategisch wichtige Hafenstadt Sochumi teilzunehmen – weswegen „sie vor ein Kriegsgericht gehörten“.

Treibstoffmangel beendete den deutschen Vormarsch

Allerdings zeitigte die durch den Kommandeur der 1. Gebirgsdivision, Generalmajor Hubert Lanz, aus Prestigegründen angeordnete Aktion, über die dann später sogar das führende NS-Blatt Völkischer Beobachter und die „Deutsche Wochenschau“ an prominenter Stelle berichteten, letztlich sehr positive propagandistische Wirkungen: für die deutsche Bevölkerung reihte sich die symbolträchtige Plazierung der Fahne auf dem Berg im Grenzgebiet zwischen Europa und Asien nahtlos in die lange Kette der spektakulären Erfolge der Wehrmacht während der deutschen Sommeroffensive von 1942 ein.

So erreichte die „Armeegruppe von Weichs“ schon kurz nach Beginn des „Unternehmens Braunschweig“, der auf den 28. Juni datierte, den Don bei Woronesch, worauf dann am 23. Juli die Eroberung von Rostow, dem politischen und wirtschaftlichen Zentrum Südrußlands, folgte. Das wiederum hatte Hitler dazu ermutigt, seine folgenschwere Weisung Nr. 45 zu erlassen, in der er gleichzeitige exzentrische Operationen gegen Stalingrad an der Wolga und den Kaukasus befahl. Letztere oblagen dabei der Heeresgruppe A unter Generalfeldmarschall Wilhelm List.

Teile derselben eroberten Anfang August die sowjetische „Getreidekammer“ am Kuban und besetzten Krasnodar sowie die Erdölfelder von Maikop. Und am 9. August stand die Wehrmacht schließlich auch schon am Nordrand des Kaukasus. Die nachfolgenden Vorstöße in das eurasische Grenzgebirge hinein mit den Hauptzielen Sochumi, Tuapse, Grosny und Baku wurden dadurch erleichtert, daß die nichtrussische Bevölkerung solcher autonomer Regionen wie Karatschai-Tscherkessien, Kabardino-Balkarien und Tschetscheno-Inguschetien die Deutschen als Befreier begrüßte, weil sie glaubte, nun das stalinistische Joch los zu sein. Aufgrund dieser Sachlage konnten Wehrmacht und Waffen-SS sogar nordkaukasische, aserbaidschanische, georgische und armenische Legionen bilden, welche dann am Kampf gegen die Rote Armee teilnahmen.

Weitere willige Helfer fand die Heeresgruppe A in der ausgedehnten Steppe, die sich südlich von Stalingrad bis ans Westufer des Kaspischen Meeres erstreckte. Hier dienten immerhin bis zu 5.000 Angehörige des kleinen buddhistischen Reitervolkes der Kalmücken in einem Kavalleriekorps, welches die 16. motorisierte Infanteriedivision bei der Sicherung bzw. Säuberung des weitläufigen Geländes unterstützte. Einheiten dieses Truppenverbandes unter dem Kommando von Generalmajor Sigfrid Henrici waren es schließlich auch, die am 16. September 1942 den östlichsten Punkt erreichten, bis zu dem deutsche Landser im Zweiten Weltkrieg jemals vordringen konnten: An jenem Tage kämpfte sich ein Fernspähtrupp bis auf 35 Kilometer an die Hafenstadt Astrachan unweit der Wolga-Mündung heran und erkundete dort Möglichkeiten der Sprengung des Verkehrsweges in Richtung Dagestan, wo die Wehrmacht bis Terekli-Mekteb nordöstlich von Grosny als ihrem weitesten südöstlichen Punkt bis Dezember 1942 vorstoßen konnte.

Angesichts solcher Erfolge schienen die beiden wichtigsten strategischen Ziele des „Unternehmens Braunschweig“ zum Greifen nahe. Das war zum einen die Inbesitznahme sämtlicher kaukasischen Ölfelder sowie auch der von Baku am Kaspischen Meer und zum anderen die Zerschlagung der sowjetischen Rüstungsindustrie im Raum Stalingrad, verbunden mit der Unterbrechung der gegnerischen Nachschubtransporte auf der Wolga.
Dann freilich entfaltete Stalins berühmt-berüchtigter Befehl Nr. 227 vom 28. Juli 1942 („Nicht einen Schritt zurück!“) langsam aber sicher seine Wirkung. So konnte die Rote Armee den Durchbruch über die Pässe des Kaukasus in Richtung der Häfen an der östlichen Schwarzmeerküste sowie nach Grosny und Baku verhindern. Und das, obwohl im Herbst auch noch tschetschenische Rebellen zum Aufstand gegen Moskau bliesen.
Ein wesentlicher Grund für das Festfressen der deutschen Offensive war der Mangel an Treibstoff. Nicht wenige von Hitlers Panzern blieben sogar direkt inmitten der gerade eroberten Erdölfelder und -raffinerien liegen. Denn die standen seit dem Rückzug der Sowjets in Flammen; überdies hatten die Arbeiter vor ihrer Flucht allerlei Schrott-Teile in die Bohrlöcher gefüllt und diese so für Monate unbrauchbar gemacht.

Unter Ausnutzung der völligen Überdehnung der deutschen Frontlinien und deren mangelhafter Absicherung an den Flanken startete die Rote Armee ab dem 19. November massive Gegenangriffe im Raum Stalingrad, die dann nachfolgend zur Einkesselung und Vernichtung der 6. Armee führten. Aufgrund dessen mußte sich die Wehrmacht aus dem Kaukasus zurückziehen, da nun der gesamte Südflügel der deutschen Front wankte. Die Absetzbewegung begann Ende Dezember 1942 mit zähneknirschender Zustimmung Hitlers und endete letztlich im März des Folgejahres an den Ausgangspunkten der Offensive vom vorigen Sommer.

Im Zuge der Räumung des Kaukasus verließen auch die Gebirgsjäger der Heeresgruppe A, welche sich in dem 4.200 Meter hoch gelegenen Elbrus-Haus festgesetzt hatten, Anfang Januar 1943 ihr einmalig exponiertes Quartier – Zeitzeugen zufolge wurde die Berghütte besenrein und in perfektem Zustand hinterlassen. Allerdings verblieb die Reichskriegsflagge auf dem vereisten Vulkangipfel. Dort wehte sie, bis am 17. Februar 1943 Bergsteiger der Roten Armee mit dem Sowjetbanner im Rucksack hinaufkraxelten und das letzte deutsche Herrschaftssymbol im Kaukasus entfernten.


Foto: Wehrmachtssoldaten hissen auf dem Elbrus die Reichskriegsflagge, August 1942: Hitler zürnte über die „verrückten Bergsteiger“ / Vormarsch der Wehrmacht in den Kaukasus und die Kalmückensteppe 1942