Von einem Weltfinanzamt träumt Alexander Dill im letzten Kapitel seines neuen Buchs „Die Welt neu bewerten. Warum arme Länder arm bleiben und wie wir das ändern können“. Alle großen internationalen Probleme hängen aus Sicht des 1959 in München geborenen Sozialwissenschaftlers davon ab, daß Staaten wie Finanzprodukte bewertet werden. Besonders in der Kritik steht das Bruttosozialprodukt als bekanntester Meßwert dieses Systems, der aber zahlreichen Manipulationsmöglichkeiten unterliegt.
Das Bruttosozialprodukt ist eine gebräuchliche Form, das Verständnis von komplexen wirtschaftlichen Zusammenhängen zu vereinfachen. Die Kennziffern seien scheinbar neutral, schreibt Dill. Die 1995 eingeführte Bewertung von Staaten nach diesem habe zu einer Explosion der Schulden geführt, welche aufgenommen werden, um das angeblich notwendige Wachstum zu erreichen. Wenn Staatsschulden aber an die Höhe des Bruttosozialproduktes gekoppelt sind, dann reicht es, rechnerisch dieses zu erhöhen, um scheinbar die Schulden zu senken, da diese in Prozentanteilen des Bruttosozialproduktes gemessen werden.
Kleinstaaaten rechnen sich durch Finanzmarkt schön
„Eine Weginflationierung der Schulden wird in den Wirtschaftswissenschaften ernsthaft als Tilgung verkauft“, staunt Dill. Für ihn sind die steigenden Staatsschulen mit dem Ozonloch vergleichbar. Ein für die ganze Welt schädliches Phänomen breite sich aus. Während im Fall des Ozonlochs die Lösungsvorschläge hochkarätiger Wissenschaftter gehört werden, gelten diese im Fall des Bruttosoziallochs als Störenfriede. Es sei aber auch hier „die letzte Warnung, eine schädliche Handlung zu unterlassen, bevor sie zur Selbstzerstörung führt“, schreibt Dill. Die völlige Ökonomisierung der Welt zerstöre letztlich die Wirtschaft.
An Beispielen wie Tansania, Rußland, Afghanistan und Syrien zeigt Dill, daß Länder oft zu Unrecht abgewertet werden, während zwölf Steueroasen international Ranglisten anführen. Wie könne es sein, daß das kaum verschuldete Rußland – immerhin der größte Flächenstaat der Erde mit riesigen Land-, Rohstoff-, Wasser- und Energiereserven, weder unter Naturkatastrophen leidend noch durch Bürgerkriege gefährdet – im Ranking nach dem Bruttosozialprodukt nur auf Platz 57 steht und damit zwölf Plätze hinter dem bankrotten Griechenland.
Während US-Amerikaner und die meisten Westeuropäer in der „menschlichen Entwicklung“ ganz weit oben stehen, leben Afghanen, Russen, Syrer, Chinesen und Bewohner von 140 weiteren Staaten angeblich in Ländern und Kulturen, denen von den Bewertern „geringer sozialer Fortschritt“ bescheinigt wird. Die Bewertung sei „zu einem perfiden Zahlenspiel von Ökonomen geworden“, heißt es in dem Buch. Die Statistiker der Weltbank könnten verschuldete und an Realwerten arme Länder an die Spitze setzen, wenn diese die zur Berechnung des BIP notwendigen Geldstransaktionen vorweisen können. So gelten Kleinstaaten als am erfolgreichsten, die sich ausschließlich mit der Vermögensverwaltung beschäftigen: Am besten läuft also eine Offshorebank.
Dill fordert die Abschaffung des Bruttosozialprodukts, „dessen manipulierte Höhe ganze Kontinente und riesige Länder arm rechnet“. Grundlage des von ihm favorisierten Bewertungssystems ist das Sozialkapital. Legte man Normen wie Solidarität, Vertrauen, Hilfsbereitschaft und das Sozialklima als Maß für die Kreditwürdigkeit einer Gesellschaft an, könnten viele Länder der Armutsfalle entkommen.
In Dills „Utopie aus dem Jahr 2027“ gibt es eine einzige Weltwährung. Es gelten fünf Prinzipien: gegenseitiger Respekt für die territoriale Integrität und Souveränität des anderen, Gewaltverzicht, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten, Gleichheit und Kooperation zum gegenseitigen Nutzen, friedliche Koexistenz. Da es keinen Strafgerichtshof mehr gibt, ist es nicht möglich, die Regierungsform, die Religion oder die Lebensweise von Bürgern zentral zu beeinflussen. Es existieren Staaten in allen Regierungsformen. Die Weltverwaltung beschränkt sich auf den finanziellen Aspekt. Ein Weltfinanzamt sorgt dafür, daß die sozialen Ungleichheiten nicht zu groß werden und sich Krieg finanziell nicht lohnt, also keine Aussicht auf Gewinn durch Gebietsgewinne, Rohstoffe oder Waffenhandel bietet.