© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 35/17 / 25. August 2017

Die guten Feinde
Vor 75 Jahren wurde von der Gestapo der Kreis der „Roten Kapelle“ zerschlagen / Eine schwierige Nachkriegsrezeption zwischen NS-Widerstand und Landesverrat
Herbert Ammon

Am 26. August 1941 erhielt Leopold Trepper, Chef eines Spionagenetzes in Brüssel, aus Moskau die Anweisung, den Agenten „Kent“ nach Berlin zu schicken. Der Funkspruch enthielt außer den Namen „Arvids und Harros“ die Adressen und Telefonnummern von Adam Kuckhoff sowie von Harro Schulze-Boysen und seiner Frau Libertas. Tatsächlich tauchte „Kent“ Ende Oktober 1941 in Berlin auf. Er erhielt von Schulze-Boysen, Oberleutnant in der Nachrichtenabteilung in Görings Luftfahrtministerium, Informationen über die „Wolfsschanze“, zum Zustand der Wehrmacht vor dem Angriff auf Moskau sowie zur Kriegsplanung.

Mitte Mai 1942, als im Lustgarten eine Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ zu sehen war, klebte Schulze-Boysen mit Gefährten Zettel mit der Aufschrift „Das Nazi Paradies“. In dieser Phase gelang es der Abwehr, Treppers Code zu entschlüsseln. Schulze-Boysen und seine Freunde wurden beschattet, so bei Segeltouren, die sie zu konspirativen Treffen auf dem Wannsee unternahmen, zuletzt am Sonntag, dem 30. August 1942.

Am nächsten Tag wurde Schulze-Boysen in seiner Dienststelle verhaftet. Am 7. September nahm die Gestapo die Eheleute Arvid und Mildred Harnack in dem Fischerdorf Preil auf der Kurischen Nehrung fest, wo sie mit dem befreundeten Historiker Egmont Zechlin und dessen Frau Ferien verbrachten. Den Tag darauf wurde Libertas verhaftet. Zuvor hatte sie noch zusammen mit ihrem jungen Filmkollegen Alexander Spoerl, Sohn des populären Schiftstellers Heinrich Spoerl und einer ihrer Liebhaber, Filmmaterial, Fotos – teilweise von Soldaten selbst als „Erinnerungsbilder“ festgehalten – und sonstiges Material vernichtet, das sie zur Dokumentation von NS-Greueltaten in Polen und Rußland archiviert hatten.

In den folgenden Wochen zerschlug die Gestapo jene Widerstandszirkel, die sich in größerem Umfang seit Kriegsbeginn maßgeblich um Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack gruppiert hatten. Die Verhaftungswelle im Herbst 1942 bis zum Frühjahr 1943 erfaßte an die 150 Personen. Als erste gab Libertas weitere Namen preis, nachdem sie sich vertrauensselig einer ihr beigesellten Gestapo-Sekretärin eröffnet und diese gebeten hatte, Hans Coppi – er hatte den einzigen Funkspruch („1000 Grüße allen Freunden“) nach Moskau zustande gebracht – und dessen Frau Hilde zu warnen. Coppi und seine schwangere Frau wurden am 12. September verhaftet. Weitere Namen preßte die Gestapo mit Daumen- und Wadenschrauben aus Arvid Harnack und Adam Kuckhoff heraus. Der deutsch-amerikanische Kommunist John Sieg widerstand drei Tage lang der Folter. Danach beging er Selbstmord wie auch seine Mitstreiter Herbert Grasse und Hermann Schulz.

Mitglieder als „Bohème echt Berliner Art“ charakterisiert

Entgegen der Vorstellung einer aus Moskau gesteuerten Verschwörung mußten die Gestapo-Behörden alsbald  erkennen, daß es sich um eigenständige, aus dem Inneren des Regimes heraus operierende Widerstandsgruppierungen handelte. Den einen Zirkel hatte Schulze-Boysen, Großneffe des Admirals Tirpitz, zusammengeführt. Als Herausgeber der Zeitschrift Gegner gehörte Harro Anfang der 1930er Jahre neben Eberhard Koebel („tusk“), Fred Schmid und Karl O. Paetel zu den Berliner Leitfiguren der nationalrevolutionär gestimmten Jugendbewegung. Im April 1933 schlugen SA-Leute Harros halbjüdischen Freund Harry Erlander tot, er selbst wurde in einem Keller der SA schwer mißhandelt.

Über seine lebenslustige Freundin Libertas Haas-Heye („Libs“), Enkelin des Kaiser-Freundes Philipp zu Eulenburg, die sich auf Schloß Liebenberg der Bewunderung des Gutsnachbarn Hermann Göring erfreute, gelang Schulze-Boysen der Eintritt in die Luftwaffe. 1936 heiratete das Paar in der Schloßkapelle zu Liebenberg. Harro, aus der Kirche ausgetreten, strich das für die Zeremonie vorgesehene Zinzendorf-Lied „Jesu geh voran“. Stattdessen ließ er seinen Bruder Hartmut „Ein feste Burg ist unser Gott“ intonieren.

Ein Brief Harros an die Eltern aus dem Jahr 1937 über zweiwöchentliche Zusammenkünfte illustriert eine noch recht locker anmutende Widerstands-praxis, die der Schriftsteller Ernst von Salomon als verspätete „Bohème echt Berliner Art“ charakterisierte. Mit Ernst Niekisch pflegte Schulze-Boysen Kontakte bis zu dessen Verhaftung 1937. Regelmäßig traf er sich mit dem im Wirtschaftsministerium tätigen Carl Dietrich von Trotha – später Ideengeber im Kreisauer Kreis – und dessen Ehefrau Margarete. Zum radical chic jener Jahre gehörten Einladungen in die Sowjetbotschaft. Über diesen Draht übermittelte Schulze-Boysen nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs Daten über die „Legion Condor“. An derlei Episoden erhellt sich der Begriff des aus höchst unterschiedlichen Quellen gespeisten „antifaschistischen“ Widerstands.

Der Jurist Arvid Harnack, Neffe des Theologen Adolf von Harnack, nach dem Weltkrieg Teilnehmer an Freikorpskämpfen, erfuhr seine Prägungen maßgeblich als Rockefeller-Stipendiat an der vom Progressive Movement inspirierten Universität von Wisconsin in Madison, wo er seine Frau Mildred Fish kennenlernte. Nach seiner Rückkehr wurde er in Gießen bei Friedrich Lenz, einem Verfechter nationalstaatlicher Wirtschaftsplanung, mit einer Arbeit über die amerikanische Arbeiterbewegung promoviert. 

Im Krisenjahr 1932 organisierte Harnack als Leiter der „Arbeitsgemeinschaft zum Studium der  Planwirtschaft“ eine Reise in die Sowjetunion, zu deren Teilnehmern auch Ernst Niekisch gehörte. Mit doppelter Promotion bestens empfohlen, stand ihm eine Karriere im Wirtschaftsministerium offen. 1937 trat Harnack, laut einer Kominternnotiz Mitglied der illegalen KPD, zur Tarnung in die NSDAP ein. Harnack, im Hinblick auf Stalin kein Illusionist, war getragen von Sorge und Hoffnung auf eine Mittlerrolle Deutschlands zwischen Ost und West. Entsprechend unterhielt er Kontakte zur amerikanischen und ab 1935 zur sowjetischen Botschaft. Im Sommer 1940 meldete sich bei ihm der NKWD-Agent Alexander Korotkow („Erdberg“) und gewann ihn für eine Zusammenarbeit. Harnack teilte ihm als erster Hitlers Angriffspläne gegen die Sowjetunion mit.

Von Schulze-Boysen erfuhr Korotkow den mehrfach verschobenen Angriffstermin des 22. Juni 1941. Stalin wies die Information in dem vielzitierten Satz zurück, man solle den Berliner „Desinformator“ zu „seiner Hurenmutter zurückschicken“. Nach dem deutschen Einfall erschienen die Berliner Informationsquellen von unverzichtbarem Wert. Doch die zwei Funkgeräte, die Korotkow den technisch unbedarften Widerständlern übergab, erwiesen sich als defekt, was wenig später den fatalen Funkspruch aus Moskau an den Brüsseler Residenten Trepper nach sich zog.

Die Existenz eines Widerstandsnetzes, in dem sich Offiziere, Beamte, Schriftsteller, Künstler, Adlige, Akademiker und Arbeiter, Kommunisten und Christen, darunter zahlreiche Frauen, zusammenfanden, erregte im Machtzentrum der Diktatur Entsetzen. Voll Empörung beauftragte Göring den Kriegsgerichtsrat Manfred Roeder mit der Anklage vor dem Reichskriegsgericht.

„Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durchs Volk“

 Im ersten von zwanzig Prozessen– sie kosteten 57 Widerständler, darunter 19 Frauen das Leben – Mitte Dezember 1942 standen die Todesurteile gegen Harnack, Schulze-Boysen und Kuckhoff von vornherein fest. Am Abend des 22. Dezember erfolgten die Hinrichtungen in Berlin-Plötzensee, teils – von Hitler angeordnet – durch Erhängen mit Drahtschlingen an Fleischerhaken, teils durch das Fallbeil. Unter der Guillotine starb auch Libertas, die vergeblich auf eine Gnadenaktion Görings gehofft und während des Prozesses zusamengebrochen war und sich von allem, auch von ihrem Mann, losgesagt hatte. 

Auch Mildred Harnack, die zu sechs Jahren Zuchthaus verurteilt worden war, wurde nach Intervention Hitlers, der das Urteil als zu milde befand, in einem neuen Prozeß zum Tode verurteilt und hingerichtet. Hilde Coppi wurde nach Geburt ihres Sohnes im August 1943 getötet, desgleichen Liane Berkowitz, Tochter eines russisch-jüdischen Dirigenten und Verlobte eines jungen Soldaten. Das Todesurteil gegen sie wurde mit der Teilnahme an der Klebeaktion begründet. 

Das Urteil über die Widerstandsgruppe Harnack/Schulze-Boysen war lange von Verzerrungen, Parteinahmen infolge der deutschen Teilung, nicht zuletzt von den Suggestionen eines Manfred Roeder geprägt, der sich später dem US-Geheimdienst CIC angedient hatte. Auch der dem weiteren Widerstand zugehörige Historiker Gerhard Ritter wollte zwischen dem „Landesverrat der kommunistischen Roten Kapelle“ und den faktisch identischen Handlungen anderer Widerständler – der Mitteilung von Angriffsterminen an Holland und Norwegen 1940 seitens des Obersten Hans Oster im Amt Canaris – eine moralische Trennlinie ziehen.

Eine derartige Abwertung der „Roten Kapelle“ war häufig nicht gerechtfertigt. In Motiven und Aktionen wie Verbreitung der Predigten des Bichofs Galen sowie von Texten („Die Sorge um Deutschlands Zukunft geht durch das Volk“), Hilfe für verfolgte Juden, ähnelt ihr Widerstand dem der „Weißen Rose“. Nicht zufällig traf sich im November 1942 Hans Scholl mit Arvids Bruder Falk Harnack. Egmont Zechlin bezeugt das gute Einvernehmen zwischen Harnack und Albrecht Haushofer. Nicht zuletzt bewegte das militärische und geopolitische Dilemma vor dem 20. Juli Adam von Trott zu Solz 1944 zu seiner Denkschrift „Deutschland zwischen Ost und West“. Mit den Protagonisten des 20. Juli teilten „die „guten Feinde“ – der vom Sohn Günther Weisenborns gewählte Titel seines Filmes über die „Roten Kapelle“ – die „vaterländischen Gefühle“, auf die sich Peter Graf York von Wartenburg vor Freislers „Volksgerichtshof“ berief.

Die Urteile gegen die „Rote Kapelle“ wurden erst 2009 als rechtswidrig aufgehoben. In der weithin ahistorischen Bundesrepublik kommt dieser Rehabilitation indes wenig Bedeutung zu. Mit dem leidenschaftlichen Patriotismus, ja Nationalismus, eines Schulze-Boysen wissen heutige Zeitgenossen nichts anzufangen.