© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Allein im All
Oppositionelle: Was die heutigen Identitären von der Jugendrevolte in der Endphase der DDR unterscheidet
Thorsten Hinz

Oft sind es nicht die Schlechtesten ihres Jahrgangs, die der Inlandsgeheimdienst in den Fokus nimmt. Das Buch des Spiegel-Redakteurs Peter Wensierski über die Leipziger Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die keine Staatsjugend mehr sein wollten und in Opposition zur SED-Politik gingen, liefert dafür einen zeithistorischen Beleg. Der damals für das ARD-Magazin „Kontraste“ tätige „Westjournalist“ Wensierski hat diese Aufmüpfigen zwischen 1987 und 1989 beobachtet und begleitet. Es waren Theologiestudenten, Krankenpfleger, künstlerisch ambitionierte Aussteiger, die in Abrißhäusern und in staatsfernen Parallelstrukturen lebten. Um für die Gesellschaft handeln zu können, mußten sie die Normen des SED-Staates negieren.

Die Umweltverschmutzung, die den Menschen im sächsischen Industrie- und Braunkohlegebiet buchstäblich die Luft zum Atmen nahm, war der Ausgangspunkt ihrer Politisierung. Sie organisierten Umweltwallfahrten, Friedensgebete, Straßenmusik, druckten Flugblätter und ließen auf dem Internationalen Festival für Dokumentarfilme Luftballons mit den Titeln verbotener Zeitschriften und Filme steigen. Permanent dem Verfolgungsdruck von Polizei und Staatssicherheit ausgesetzt, erlebten sie Festnahmen, Verhöre, Zersetzungsmaßnahmen. Heimlich filmten sie den Verfall der Stadt und die anschwellenden Proteste und gehörten zu den Akteuren der Montagsdemonstrationen, die das Ende der SED-Herrschaft besiegelten. „Alles in diesem Land ist in wenigen Wochen aus den Angeln gehoben worden. Es war oft unheimlich gewesen und leicht zugleich.“

Identitäre haben das Machtkartell gegen sich

Wensierski hat eine lebendige, mitunter auch romantisierende Innenansicht der Aktivistenszene verfaßt. Die jungen Leute waren eine kleine Minderheit. Als Avantgarde des Umsturzes konnten sie kurzzeitig in Erscheinung treten, weil die Weltgeschichte es gut mit ihnen meinte. Das war der Unterschied zum 17. Juni 1953 und zum 13. August 1961, der ihren Mut und ihre Risikobereitschaft überhaupt nicht schmälert. Der massenhafte Abfluß junger DDR-Bürger über Ungarn hat die SED-Herrschaft mindestens so sehr zermürbt wie das Aufbegehren der Opposition. Die fand in der Kirche einen Schutzraum und in den bundesdeutschen Medien einen Multiplikator. Die DDR-Führung war international isoliert, wirtschaftlich von der Bundesrepublik abhängig und in ihren Reaktionsmöglichkeiten beschränkt. Erst diese günstigen Umstände erklären die Leichtigkeit der Revolution 1989.

Die Aktivisten der Identitären Bewegung haben es leichter und schwerer zugleich. Leichter, weil sie formal über mehr Spielraum und Möglichkeiten verfügen. Was sie vor allem aktiviert, ist der „Große Austausch“, der sich in Deutschland und Europa durch den millionenfachen Zuzug aus Nordafrika und dem Nahen und Mittleren Osten vollzieht. Am 27. August 2016 befestigten sie auf dem Brandenburger Tor in Berlin ein Transparent mit der Aufschrift „Sichere Grenzen – Sichere Zukunft“. Die erpresserische Installation sogenannter Aleppo-Busse vor der Dresdner Frauenkirche haben sie mit dem Plakat „Eure Politik ist Schrott“ ins Lächerliche gezogen. Vor dem Justizministerium und der CDU-Zentrale veranstalteten sie Blockaden. Am letzten Wochenende protestierten sie am WDR-Gebäude in Köln mit einem Großtransparent gegen die Propagada-Berichterstattung und entzündeten Pyrotechnik. Die bislang spektakulärste Aktion ist die Mission „Defend Europe“. Mit dem gecharterten Schiff „C-Star“ ist es ihnen gelungen, die Schlepperaktivitäten der NGO-Schiffe zu dokumentieren und zu lähmen (die JF berichtete).

Das ist eine ganze Menge für eine kleine Gruppe von 20- bis 30jährigen, die materiell auf sich allein gestellt sind und die moralische Kraft aus sich selber schöpfen müssen. Sie haben keinen milliardenschweren Großfinanzier auf ihrer Seite, aber Staat, Politik, Justiz, Medien, Kirchen, die Antifa-Schläger, das gesamte Macht- und Ideologiekartell gegen sich. Und die Weltläufte arbeiten unerbittlich auf die Zerstörung der europäischen Nationalstaaten hin. Es ist beinahe rührend, wie der Verfassungsschutz in seinem Bericht 2016 versucht, in vier oder fünf unbeholfenen Sätzen einen „Verdachtsfall“ auf „rechtsextremistische Bestrebungen“ zu konstruieren. Sie sind strikt gewaltlos und präsentieren sich öffentlich. Sie zeigen Gesicht, was in diesem Fall tatsächlich Mut erfordert.

Zwei neue Bücher wollen Auskunft über ihr Selbstverständnis geben: Der 29jährige Gründer des identitären Hausprojekts „Kontrakultur Halle“ in Halle/Saale, Mario Alexander Müller, hat das Buch „Kontrakultur“ verfaßt. Der Name ist Programm. Man will keine Subkultur, keine neue Facette geduldeter oder subventionierter Scheinalternativen sein, sondern den Widerspruch gegen das Ganze wagen. Es handelt sich um ein Kompendium alphabetisch geordneter Stichwörter, das von „Abenteuer“, „d’Annunzio“ über „Demokratie“ und „Demonstration“ bis zur „Zweiten Wiener Türkenbelagerung 1683“ reicht.

Eine Generation „verwöhnter Einzelkinder“ 

Wie ihre Altersgefährten in der DDR sehen auch die jungen Identitären sich von der Politik um Lebens- und Zukunftschancen gebracht. Unter dem Begriff Selbstverteidigung heißt es: „Die Regierung hat unsere Grenzen nicht geschützt (…). Nun ist es an uns, uns selbst zu schützen. Angesichts der zur bitteren Normalität gewordenen Migrantengewalt, sexueller Übergriffe und Attacken auf Patrioten ist die Fähigkeit zur Selbstbehauptung, zum Schutz von Heimat und Familie (…) eine elementare Notwendigkeit (…) Wir werden den Kopf nicht senken, uns nicht bestehlen, demütigen und schlagen lassen.“ Hier wird deutlich: Es geht nicht zuletzt um Stolz, um die Verteidigung eigener Würde, um das Aufbegehren gegen die moralische Schuldknechtschaft und die Verweigerung der Unterwerfung.

In seinem Buch „Identitär!“ erzählt der 28jährige Martin Sellner, Student der Rechtswissenschaft und Philosophie in Wien, aus persönlicher Sicht die „Geschichte eines Aufbruchs“. Sellner ist ein Kopf der Bewegung und ihre unbestrittene Galionsfigur im deutschsprachigen Raum. Intelligenz, Belesenheit, rhetorische und organisatorische Begabung summieren sich zu einem beträchtlichen Charisma. Die Schriften von Arendt, Heidegger und Max Weber sind ihm geläufig.

Manchmal verfällt er in romantischen Überschwang, doch in der Regel argumentiert er erstaunlich nüchtern. Ein „sanfter Totalitarismus“ verhindere die Kommunikation der potentiell Gleichgesinnten, die sich deswegen in der Isolation und ohnmächtig fühlten. Seine – Sellners – Generation sei die letzte, die noch eine Wende herbeiführen könne. Beim Blick auf seine Altersgenossen gestattet er sich keine Illusionen. Die Generation bestehe zum großen Teil aus „verwöhnten Einzelkindern“, die zerrütteten Familien entstammten. Sie sei ohne Dynamik, Kraft, Gemeinschaftsgefühl und damit wehrlos gegen den demographischen Überdruck der hungrigen Migrantenjugend. Das heißt: Die identitäre Avantgarde wird – anders als die DDR-Oppositionellen durch die Massenflucht – voraussichtlich keine massive Energiezufuhr durch Gleichaltrige mehr erhalten.

Sellner sieht Europa in der Situation eines Raumschiffs, das auf der Reise durchs All attackiert wird und dessen alternde Besatzung feststellt, daß die Abwehrsysteme manipuliert („gehackt“) worden sind und sich gegen sie wenden. Die Identitären sieht er in der Funktion einer „metapolitischen Spezialeinheit“, der es gelingt, das gestörte System wieder umzuprogrammieren. 

Doch dazu werden symbolische Aktionen nicht ausreichen, man muß an die Schaltstellen gelangen. Das braucht Zeit. Diese Zeit aber, räumt Sellner ein, haben wir nicht mehr. Es ist ein Teufelskreis, den auch er nicht durchbrechen kann. Alternativen wie „Reconquista oder Untergang“ gehören jedenfalls in den Bereich der politischen Romantik. Und das „System“ hat kaum erst seine Krallen ausgefahren.

In Müllers „Kontrakultur“ findet sich ein Artikel zum japanischen Schriftsteller Yukio Mishima, der 1970 mit jungen Gleichgesinnten eine Kaserne besetzt hatte in der Erwartung, damit eine Armee-Revolte gegen den Kultur- und Traditionsverlust auszulösen. Er erntete Gelächter und beging Seppuku, den rituellen Selbstmord. Der Autor nennt das „eine letzte schöne Geste, von Anfang an zum Scheitern verurteilt“. Das ist die positive Interpretation. Eine andere hat Marguerite Yourcenar in ihrem Mishima-Essay formuliert: „Die letzten Fotos zeigen ihn mit geballter Faust und aufgerissenem Mund, mit jener Häßlichkeit, wie sie dem Menschen eigen ist, der schreit oder brüllt, ein physiognomisches Mienenspiel, das vor allem die verzweifelte Bemühung kenntlich macht, sich Gehör zu verschaffen ...“

Damit Mut und Phantasie nicht irgendwann in das Gefühl der Vergeblichkeit münden und ihre politische Aktion nicht in Hybris und Selbstzerstörung umschlägt, brauchen diese Aktivisten Zeichen der Ermutigung.

Peter Wensierski: Die unheimliche Leichtigkeit der Revolution. DVA, München 2017, 464 Seiten, gebunden, 19,99 Euro

Martin Sellner Identitär! Verlag Antaios, Schnellroda 2017, broschiert, 279 Seiten, 16 Euro