© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Als die Tombola beginnt, ist die Politik vergessen
Zu Gast auf einer Teeparty der britischen Konservativen: Brexit-Befürworter sind von der Haltung Brüssels überrascht
Karlheinz Weißmann

I am an aye-Brexit“, lautete der erste Satz nach der freundlichen Begrüßung durch die Vorsitzende des Ortsverbandes der Konservativen. Sie sagte ihn mit einem Lächeln, als höfliche Vorabklärung der Position. Der zweite bezog sich auf das Treiben ringsum: „Ja, wir sind viele. Hier ist Geld.“ Man sieht sich um und versteht, was gemeint ist: Die Tories immer noch als Klassenpartei, die die obere Schichtung der britischen Gesellschaft abbildet.

Derweil steht man vor einem Landhaus in prächtig blühendem Garten unter der strahlenden Sonne Südenglands, die Damen im Kleid, oft mit Hut, die Herren mit Sakko und Krawatte. Die Stühle an den provisorischen Tischen, die man unter freiem Himmel aufgebaut hat, füllen sich nach und nach, der Tee kommt aus quietschbunten, riesigen Metallkannen, die herumgetragen werden, dann folgen die Platten mit den obligatorischen, entrindeten, schräg halbierten Sandwiches, dekorativ auf die Breitseite gestellt (Gurke, Lachs, Butter und Kresse, irgendein Chutney).

Hoffnung auf eine radikale Reform der EU

Man nimmt einen Schluck, man nimmt einen Happen. Das Gespräch kommt in Fluß. Und wieder geht es um den Brexit. Es braucht eine Zeit, bis der Unglaube überwunden ist, daß die Deutschen nicht dauernd über den Abschied der Briten von der Union diskutieren. Denn die selbst tun das mit Inbrunst. Hier jedenfalls wird immer noch das Für und Wider erwogen, als ob die Sache keineswegs erledigt wäre.

Dabei bilden die Gegner des Brexit unter den Anwesenden eine verschwindende Minderheit. Ihre Verteidigung scheint eher zaghaft, für gewöhnlich sind pragmatische und wirtschaftliche Interessen ausschlaggebend; man hat ein Haus in Südfrankreich, halbjährlich bewohnt, oder eine Firmenniederlassung auf dem Kontinent und scheut die Umstände, die jetzt auf einen zukommen werden.

Dagegen sitzt der radikalste „brexiteer“ zu meiner Linken. Eine energische Dame deutscher Herkunft, die sich vor sechzig Jahren in einen Briten verliebte und ihm über den Kanal folgte. Mittlerweile hat sie alles, was unter den Bulldoggenpatriotismus eines Briten fällt. Sie richtet sich zu voller Größe auf, der Gartenstuhl knarrt bedenklich, und dann kommt: „Ich war schon ’72 gegen den Beitritt zum gemeinsamen Markt. Was hat uns der überhaupt gebracht? Besser wir wären beim Commonwealth geblieben.“ Man schweigt beeindruckt, und es dauert tatsächlich einen Augenblick, bis sich Widerspruch regt.

Aber die Mehrheit der Brexit-Befürworter hier wurde offenbar zuerst vom Ausgang der Abstimmung, dann von der harten Brüsseler Haltung überrascht. Man habe eigentlich gehofft, äußert ein Herr, daß das Votum nicht zum Ausscheiden der Briten, sondern zu einer radikalen Reform der EU führen werde. Warum verstehe niemand ihr Ziel, die Union in eine Föderation von Nationalstaaten umzubauen, die ihre Souveränität im wesentlichen behalten könnten und zusammen eine Freihandelszone bildeten? Warum, setzt er nach, mischt sich die Union dauernd in die Frage ein, wie er seine Firma führe? Und ein zweiter sekundiert: „Eben, und Brüssel ist zu weit weg. Mir ist eine korrupte Bande in London allemal lieber als eine korrupte Bande irgendwo da drüben.“

Vorsichtig frage ich, warum die konservative Regierung diese Position nicht stark gemacht habe. Die Antwort kommt prompt: „Weil das Kabinett von einer Kindergärtnerin geführt wird.“ Sie stammt von meinem Gegenüber, der sich als Colonel außer Dienst vorgestellt hatte, und „Green Jackets, jetzt The Rifles“ mit offensichtlichem Stolz hinzufügte.

Bis dahin bestand sein Beitrag zum Tischgespräch aus einer Anekdote, wie seine Schwester in den 1930er Jahren vom Geheimdienst rekrutiert worden war, und einem langen Monolog über sein Lieblingsthema: die Schlacht bei Waterloo en Détail, der immerhin zu der für einen Briten erstaunlichen Ansicht führte, daß den entscheidenden Anteil am Sieg die Deutschen hatten (des Königs Deutsche Legion und die „verdammten“ Preußen). Die Umsitzenden, zwar darauf gefaßt, aber deutlich ermüdet, merkten auf, als er nachschob: „Seit ein, zwei Generationen ist es so, daß die Politiker den Leuten nach dem Munde reden. Ganz egal, ob Wirtschaft, Einwanderung, die Lage an den Schulen, Gesetze überhaupt, immer dasselbe. Man tut das Falsche, und abgesehen von den Dummen, von denen es in Westminster wimmelt, haben wir es mit Leuten zu tun, die auch wissen, daß es das Falsche ist. Aber das interessiert sie nicht. Sie machen nur, was sie beliebt macht. Bei der BBC, bei der Presse, bei den Linken, die überall hocken, sogar in der Kirche, oder beim dummen Volk.“ – „Und“, fügt er hinzu, „ist es bei euch besser? Mit Mrs Merkel?“

Die Frage gilt dem deutschen Gast, der resigniert den Kopf schüttelt, was bei dem alten Herrn ein zufriedenes Kopfnicken auslöst, ob der konservativen Internationale, die sich hier anbahnt. Also hebt er gut gelaunt zur Beschimpfung der Gewerkschaften an und der Roten überhaupt, die seit hundert Jahren, seit der Bolschewistischen Revolution in Rußland, alles untergraben. Auch das scheint eines seiner Lieblingsthemen zu sein, und auf den Gesichtern der übrigen Anwesenden spiegelt sich höfliche Resignation. Jedenfalls, bis die Erlösung folgt, in Gestalt der Ankündigung, daß nun die Tombola beginne.

Alle starren auf die vor ihnen liegenden Lose

Die Unterhaltung erstirbt, vergessen die historische Reminiszenz und die Politik, weil die Gewinnzahlen aufgerufen werden und alle gebannt oder sorgenvoll auf den Riegel der Lose starren, der vor ihnen auf dem Tischtuch liegt. Und hier und da geht die Hand eines Glücklichen nach oben und er oder sie darf sich eine Flasche Port oder Wein abholen, oder Konfekt oder etwas Selbstgemachtes, und ganz zum Schluß trifft es noch den Colonel, für den lediglich ein Set mit Badesalz und -seife bleibt. Er nimmt es wie ein Mann und kehrt grinsend und mit einem halblauten „Für meine Freundin“ auf seinen Platz zurück.

Da steht die Sonne schon tiefer und taucht den Garten in mildes Licht. Man erhebt sich, legt noch Hand an beim Aufräumen und gönnt der Gastgeberin ein paar freundliche Worte, die zum Abschied daran erinnert, daß man die nächste Veranstaltung nicht vergessen solle, in vier Wochen, eine Modenschau, bei der die Mitglieder der Frauenorganisation der Tories die Kleider auf dem Laufsteg zeigen würden.