© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 36/17 / 01. September 2017

Von der Naturgewalt Liebe getroffen
Literatur: In Ulrich Schachts Roman „Notre Dame“ verschränken sich das Politische und Private
Thorsten Hinz

Das Politische ist privat, und das Private ist politisch, lautet ein alter Sponti-Spruch, der auch über dem neuen Roman von Ulrich Schacht stehen könnte. Jedoch bekäme er dann eine ganz andere Bedeutung. Die längst zu Dogmatikern mutierten Spontis transzendierten ihre kleinen, oft gestörten Befindlichkeiten in die große Politik und erwarteten, durch staatliche Regulierung von ihnen erlöst zu werden. Bei Schacht, dem Individualisten, sind das Politische und Private zwei Bezirke, die sich immer wieder berühren, inspirieren, miteinander verschränken, katalytisch aufeinander einwirken, ohne miteinander identisch zu werden. So unterscheiden sich die Anhänger des vormundschaftlichen von denen eines freiheitlichen Modells.

Die Hauptfigur des Romans ist der 40jährige Torben Berg, ein erfolgreicher, in Hamburg lebender Journalist und Schriftsteller. Er stammt aus der DDR, aus dem Mecklenburgischen, war aus politischen Gründen inhaftiert und von der Bundesrepublik freigekauft worden. Ebenso seine Ehefrau Karla. Die Ereignisse von 1989 elektrisieren ihn unmittelbar, und beruflich ist er als Berichterstatter und DDR-Experte gefragt.

Bereits der Name des Romanhelden enthält Hinweise, daß es sich bei Berg auch um ein Alter ego des Autors Schacht handelt. Sofort nach dem Mauerfall fährt er in die DDR, nach Mecklenburg. Schacht hat sehr fein beschrieben, wie das Zerbröseln der staatlichen Autorität sich im Verhalten der kleinen Amtsträger äußert. Noch sind es zwei deutsche Staaten, und die Funktionäre der Staatsmacht möchten gewohnheitsgemäß die Krallen ausfahren, weil im Paß ein Stempel fehlt, doch unter dem Eindruck der Umwälzungen ziehen sie sie opportunistisch wieder ein. Kein Zweifel, daß sie auch im neuen System ihren Platz finden werden.

Berg, der sich bereits als Regimekritiker betätigte, als es gefährlich war, ist bei den Montagsdemonstranten hochwillkommen. In einem einzigen Satz hat Schacht die Ratlosigkeit und politische Schwäche der Volksbewegung gefaßt, die bald darauf in Helmut Kohls starke Arme hinabsank: „Die friedliche Revolution in Parchim aber wartete auf den Redner aus Hamburg.“ 

Doch Berg gerät das Politische schnell in den Hintergrund. Und zwar ausgerechnet in Leipzig, dem Zentrum der Widerständigkeit. Denn hier lernt er die wesentlich jüngere Rike kennen, die gerade ihr Studium beendet hat. Sie wird für ihn wichtiger als die berufliche Karriere – und als seine Familie. Keine Angst: Diese Liebe fügt sich nicht in das Klischee „West trifft Ost“ ein, das die große Wiedervereinigung im Kleinen spiegeln soll, sondern hier überspült die bezwingende Gewalt der Wahlverwandtschaften alle Konventionen. Der parallele Umsturz der politischen Ordnung macht es Berg allerdings leichter, auch im Privaten die Überschreitung der Verhaltensregeln und Ehemoral zu wagen. Nein, sehr moralisch ist sein Handeln nicht. Seine Frau hat den Vertrauensbruch nicht verdient, zudem ist er Familienvater. Aber was kann einer tun, der von einer Naturgewalt getroffen wird?

Ein Kapitel spielt auf den Färöer-Inseln

Apropos Liebe und Natur. Höhepunkt des Roman ist ein in der Ich-Form verfaßtes Kapitel, das auf den Färöer-Inseln spielt und zwischen Brief und Tagebuch changiert. Schacht, der Nordland-Reisende, ist hier auf der Höhe seiner Sprachkunst. Es geht um Liebe und Leidenschaft, Schuld und schlechtes Gewissen, um Natureindrücke und Metaphysik, um Freundschaft und Bacchanale. Es ist ein einziger langer Liebesbrief, der an dieser Stelle nicht nacherzählt und gedeutet werden soll, denn es handelt sich um einen Text von eigenem Rang. Man muß ihn lesen, um die Synthese aus Reflexion und Sinnlichkeit nachvollziehen zu können. Schacht hat ihm ein treffendes Zitat des Literaturnobelpreisträgers Knut Hamsun vorangestellt: „Als ich hereinkam, betete ich innig zu Gott, der allein mir weiterhelfen konnte. Ich schlief nicht während der Nacht; die Liebe ist hart.“

Es geht nicht alles gut im Buch, natürlich nicht. Die Silvesternacht von 1991 zu 1992 verbringt Torben Berg allein in Paris. Die Paris-Reise bildet den Rahmen der Romanhandlung. Wenigstens sind die Restaurants in der Lichterstadt edel, und die Messe in der Kathedrale von Notre Dame – Unsere Frau – überwältigt ihn. Die Liebe höret nimmer auf.

Ulrich Schacht: Notre Dame.Roman. Aufbau Verlag,  Berlin 2017, gebunden, 431 Seiten, 22 Euro