© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Aversion gegen Bevormundung
Und also unterscheidet sich/ Der Freie von dem Knecht: Zum 200. Geburtstag von Theodor Storm
Günter Scholdt

Theodor Storm gehört zu den Klassikern des 19. Jahrhunderts, deren Stern allerdings gegenwärtig nicht mehr so hell strahlt wie der des offenbar ewigjungen Fontane. Ein breites überregionales Leserinteresse für mehr als Einzelstücke seines Werks ist ihm nicht mehr beschieden. Immerhin haben drei seiner Schlüsseltexte sogar im Schullektürekanon überlebt. Auch sorgt eine rührige Literaturgesellschaft mit 1.150 Mitgliedern dafür, daß der Autor im Gespräch bleibt. Es gibt jährliche Tagungen, eine Schriftenreihe, einen Theodor-Storm-Preis. Zudem trägt die literaturtouristische Vermarktung seiner Husumer Wohn- und Wirkungsstätten dazu bei, das Gedächtnis an den prominenten Sänger Schleswig-Holsteins zu bewahren. 

Auch die Germanistik zeigt sich, von einzelnen ideologiekritischen oder psychoanalytischen Sperenzchen abgesehen, nicht als Spielverderber. Zumindest blieb der Dichter von gängigen „emanzipatorischen“ Exorzismen verschont. Dabei bieten seine Frauengestalten insgesamt wenig feministisches Ausbeutungspotential. Und er hat (in einem sachbezogen-nichtdenunziatorischen Sinne) Heimatdichtung par excellence geschrieben: das heißt identitätsstiftende Literatur, die, getragen von Grundsympathie, sich besonders mit Eigenheiten, Schicksalen, Mentalität und Geschichte eines ihm vertrauten Raums befaßt. Und da sind wir bereits bei dem Gedicht, das – wie kein anderes – zum Prototyp lyrischer Heimatliebe wurde und den Spott kosmopolitisch Verbildeter an sich abprallen läßt. Es beginnt mit den vielzitierten Versen: „Am grauen Strand, am grauen Meer/ Und seitab liegt die Stadt;/ Der Nebel drückt die Dächer schwer,/ Und durch die Stille braust das Meer/ Eintönig um die Stadt.“

 Liebeserklärung an seine Heimatstadt

Zahlreiche Generationen zwangsliterarisierter oder tatsächlich bewegter Schüler haben den auf Husum bezogenen Text in seiner eindrucksvollen metaphorischen Knappheit gedeutet, in seinem effektvollen dichterischen Minimalismus. Ihnen erschloß sich Storms (durch Nebel, Gras und Meeresrauschen äußerst karg charakterisierte) Geburtsstadt als Sehnsuchtsraum. Keine vordergründige Attraktivität ward beschworen, wo, fast karikierend, selbst Wildgänse den Ort nur nächtlich überfliegen. Doch dem folgt als Pointe eine überraschende Liebeserklärung an seine durch erzwungene Auswanderung verlorene Heimat: „Doch hängt mein ganzes Herz an dir,/ Du graue Stadt am Meer;/ Der Jugend Zauber für und für/ Ruht lächelnd doch auf dir, auf dir,/ Du graue Stadt am Meer.“

Die Fähigkeit, mit wenigen lyrischen Farbtupfern Stimmung zu erzeugen, gilt auch für das Weihnachtsgedicht „Knecht Ruprecht“, das, wo man noch traditionell zu feiern weiß, in jenen Tagen eigentlich nirgends fehlen darf: „Von drauß’ vom Walde komm ich her;/ Ich muß euch sagen, es weihnachtet sehr!/ Allüberall auf den Tannenspitzen/ Sah ich goldene Lichtlein sitzen.“

Das sind schon mal zwei zu Recht in den Klassiker-Kanon aufgenommene Gedichte. Ein drittes folgt später. Doch mustern wir zunächst die zweite Großgattung, in der Storm produktiv war. Denn auch als Erzähler fand er sein Publikum, allem voran mit der Novelle „Immensee“ (1849), die ihm bereits zu Beginn seiner Schriftstellerkarriere den größten Erfolg bescherte. Nun gehört die Geschichte einer unerfüllten Jugendliebe, ähnlich wie das populäre Jugendbuch „Pole Poppenspäler“ oder die rührselige Novelle „Viola Tricolor“ (beide 1874), wohl nicht zu den Texten, die sein ästhetisches Überleben sichern. Zu aufdringlich (mit Symbolen von Hänfling und Wasserlilie), zu gemüthaft-sentimental wirken manche Passagen heute auf uns, so daß schon das böse Wort vom „Edelkitsch“ aufkam.

Eine tröstliche Poetisierung des Leids

Dabei ist Storm insgesamt als poetischer beziehungsweise bürgerlicher Realist fraglos sachkundig klassifiziert, falls beide jeweiligen Komponenten des Epochenbegriffs gleichermaßen zählen. Ein ausgeprägtes bürgerliches Selbstbewußtsein spricht aus vielen seiner Novellen, verknüpft mit Aversionen gegen klerikale und aristokratische Bevormundung. Eine zunehmend skeptische Weltsicht kam hinzu. Zum Realismus nötigte ihn weiterhin ein Leben, das ihn vor familiären Schicksalsschlägen nicht verschonte. Auch bot sein Richterberuf häufig Anlässe, die Schattenseiten menschlicher Existenz erzählerisch auszuloten. 

Seine Texte enthalten viel Bitteres und Düsteres, von zerstörender Leidenschaft (1872: „Draußen im Heidehof“) bis zum Tod. Auch die soziale Frage als thematisches Zentrum des Naturalismus beschäftigte ihn bereits (1887: „Ein Doppelgänger“), dazu familiäre Konflikte. Zum Ergreifendsten gehören die Novellen „Carsten Curator“ (1878) und „Hans und Heinz Kirch“ (1882), autobiographisch inspirierte Gestaltungen des prekären Verhältnisses zu seinen unbürgerlichen, teils dem Alkohol verfallenen Söhnen. 

Doch auch wo Schmerzliches triumphiert, gibt es als Kontrapunkt und ästhetisches Credo fast immer eine tröstliche Poetisierung des Leids, sei es durch Hoffnung auf die Zukunft, sei es, daß mitleidige Frauen Konflikte dämpfen. Daneben wird doppelbödig erzählt, über Träume, Gerüchte oder Gesichte eine geheimnisvolle zweite „Wirklichkeit“ kreiert. Dies zeigt Storm (in Anlehnung etwa an „Gespenster-Hoffmann“) fast als „letzten Romantiker“. Solche Zusammenführung unterschiedlicher Wahrnehmungs- und Realitätsebenen gipfelt 1888 in seinem bedeutendsten Erzählwerk: „Der Schimmelreiter“. 

Der Autor beendete es in seinen letzten Lebensmonaten als eine Art literarischen Schwanengesang. Daß er dies noch vermochte, verdanken wir der List seiner Frau, die befreundete Ärzte zu einer beschönigenden Diagnose des Krebskranken veranlaßte – ein frommer Betrug, der sich vor der Literaturgeschichte allemal rechtfertigt. Die virtuos gestaltete Novelle verbindet die Wiedergänger-Sage vom „gespenstigen Reiter“ mit der Würdigung eines genialen Deichkonstrukteurs. Das Ganze vor der Kulisse einer grandios gezeichneten Meerlandschaft als elementarer Herausforderung.

Unversöhnlich gegenüber der dänischen Krone

Ihr erliegt am Ende Deichvogt Hauke Haien, ein autodidaktischer Willensmensch, der sein Amt gegenüber wohlhabenderen Anwärtern seiner außerordentlichen Tüchtigkeit und einer Heirat verdankt. Er erliegt aber auch dem Widerstand eines Teils der Bauern, die seine ehrgeizigen Deichpläne ebenso ablehnen wie seinen rationalistischen Kampf gegen überkommenen (Aber-)Glauben. Familiäre Handicaps wie seine schwachsinnige Tochter Wienke lähmen ihn schließlich so weit, daß ihm die nötige Härte abgeht, um Gefahren für den Deich abzuwehren. Als dieser bricht, stürzt er sich mit seinem geheimnisvollen Schimmel in die tobende See.

Haien ist zweifellos als Held konzipiert. Doch er handelt nicht gänzlich aus Fürsorge für die ihm Anvertrauten, sondern zugleich aus dem Wunsch, es seinen Gegnern zu zeigen. Als Deichvogt überzeugt er sie weniger, als daß er sie zwingt. Und sein Landgewinnungsprojekt verrät technokratischen Geist, wodurch Fehler und Schwächen besonders ins Gewicht fallen. Auch unsere heutigen postdemokratischen Lenker riskieren fatale Deichbrüche, wenn auch ganz anderer Art. Nur finden sich unter ihnen wohl keine Hauke Haiens, die sich in die Fluten stürzen, wenn ihre Menschheitsexperimente gescheitert sind. Und sein „Herr Gott, nimm mich; verschon die andern!“ widerspricht ihrer Mentalität.

Ein letzter Blick gelte dem politischen Storm. Er war ein mutiger Liberaler zu einer Zeit, als dieser Begriff noch nicht vom Freiheitsanspruch und Patriotismus entkernt war. Er engagierte sich 1849 in Schleswig-Holsteins Unabhängigkeitsbewegung und verweigerte die geforderte Loyalitätserklärung der dänischen Krone.

1852 wurde ihm daher die Advokatur verweigert, was ihn zu einem zwölfjährigen „preußischen Exil“ nötigte. Auch dort stieß sich sein selbstbewußter „Friesenschädel“ an ihm Unzumutbarem: der junkerlichen Enge jener Führungsschicht. Als Schriftsteller erduldete er dabei das wohl ewig aktuelle Dilemma, nicht alles Empörende offen schreiben zu dürfen, ohne seine Publikationsbasis zu gefährden. Doch fand er sich nie damit ab und formulierte als Handlungsdevise: „Der eine fragt: Was kommt danach?/ Der andere fragt nur: Ist es recht?/ Und also unterscheidet sich/ Der Freie von dem Knecht.“

Der Text sei allen ins Stammbuch geschrieben, die sich ihr spontanes Empfinden für Recht und das Richtige durch politische Korrektheitsgebote oder hyperbedenkliche taktische Selbstkontrolle haben abdressieren lassen. Das Gedicht macht Front gegen eine bloß an Wirkung und Erfolg orientierte Duckmäuserei. Es geht uns alle an – gerade heute. Und über den, der es schrieb, gilt Hamlets Urteil: „Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem.“






Prof. Dr. Günter Scholdt, Jahrgang 1946, ist Germanist und Literaturwissenschaftler.