© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Internationales Ansehen endet beim Provinzniveau
Von Straßburg zu Strasbourg: Eine Studie offenbart auch den Abstieg einer renommierten Universität nach 1918
Dirk Glaser

Dem militärischen Sieg über Frankreich sollten im wiedergewonnenen Straßburg 1872 „moralische Eroberungen“ auf dem Fuße folgen. Gespart werden mußte beim faktisch einer Neugründung gleichkommenden Ausbau des Hochschulstandorts im Reichsland Elsaß-Lothringen daher nicht. Zumal Millionen aus dem Topf der französischen Reparationsgelder zur Verfügung standen. Kein Wunder, daß die derart großzügig geförderte Kaiser-Wilhelm-Universität dann bereits im ersten Jahrzehnt ihres Bestehens in der Rangliste der deutschen Universitäten einen der oberen Plätze einnahm, neben Berlin, Leipzig, Bonn.

Ungeachtet dieser Bedeutung, befassen sich Wissenschaftshistoriker diesseits des Rheins erst seit Ende der neunziger Jahre ein wenig intensiver mit dem längeren (1872–1918) und kürzeren (1941–1944) Abschnitt der deutschen Geschichte der Universität, so daß deren Erforschung immer noch hauptsächlich in französischer und angelsächsischer Hand liegt. So stammt auch der jüngste, den Straßburger Neurowissenschaften geltende Beitrag aus der Feder des an der Universität Calgary tätigen Medizinhistorikers Frank W. Stahnisch (Sudhoffs Archiv, 2/2016).

Französischer Zentralismus in der Bildungspolitik

Stahnisch will die Forschungstätigkeiten von Anatomen, Physiologen und klinischen Neurologen unter dem „Einfluß wechselnder kultureller Kontexte sowie politischer Brüche“ untersuchen und so einen Beitrag zu einer „bisweilen dramatischen Episode der deutsch-französischen Medizingeschichte“ liefern. Eine bei der im umkämpften Grenzland angesiedelten Reichsuniversität naheliegende Aufgabenstellung. Dieser wird Stahnisch, dessen Studie auf umfangreichen Archivrecherchen basiert, aber leider nicht gerecht. Denn von dem versprochenen Vergleich zweier Wissenschaftskulturen kann schwerlich die Rede sein. Weder kommt die französische Hochschulpolitik vor und nach 1872 als Kontrast zur preußisch-deutschen in den Blick, noch verrät Stahnisch allzuviel über die Universität Strasbourg in der Zwischenkriegszeit. 

Lediglich angedeutet wird, als Folge der zentralistischen, auf Paris konzentrierten französischen Hochschulverwaltung, Strasbourgs Abstieg von der international vorbildlichen, bis in die USA ausstrahlenden deutschen Forschungsuniversität zu einer gerade in den Naturwissenschaften und in der Medizin unterdurchschnittlichen Provinzuniversität. 

Darum bleibt dem Leser verborgen, in welchem Umfang französische Neurologen, wenn auch auf niedrigerem Niveau, da sie infolge finanzieller Austrocknung an „Schwung“ verloren, in der Kontinuität deutscher „Forschungskultur“ standen. Was insbesondere deshalb von Interesse ist, weil Stahnisch sich für die neuerliche reichsdeutsche Episode von 1941 bis 1944 intensiver dem „rassenhygienischen Paradigma“, den Einbindungen von Neurologen, Physiologen und Anatomen in die NS-Gesundheitspolitik (Zwangssterilisation, Euthanasie), sowie ihrem Anteil an der wehrwissenschaftlichen Zweckforschung zuwendet. Ob ähnliche Forschungsrichtungen bis 1940 in Strasbourg oder an anderen französischen Universitäten gepflegt wurden, bleibt in dieser Studie genauso im dunkeln wie das Ausmaß des Ersten Weltkrieges als „Impulsgeber“ für Frankreichs Psychiater und Neurologen, während Stahnisch ihren Kollegen in Straßburger Kliniken eine enge, den „Geisteskrankheiten im Felde“ und den „Kriegszitterern“ gewidmete Kooperation mit dem Heeressanitätswesen attestiert.

Zudem schreckt die Arbeit durch viel Postfaktisches und manche Schiefheiten ab. So suggeriert Stahnisch, die „deutschsprachigen“ Professoren seien 1918/19 „aus persönlichen Gründen ins Reich abgewandert“, obwohl die „neue Führung“ doch viel daransetzte, sie zu halten. Was bei dem Physiologen Hans Lullies offenbar gelang, denn für Stahnisch ist er 1935 in Strasbourg tätig. Also zu dem Zeitpunkt, als der Königsberger Oberassistent gerade zum Ordinarius in Köln aufstieg, von wo er dann zum Wintersemester 1941/42 an die neueröffnete Reichsuniversität Straßburg wechselte. 

Daß eine solche Fehlerfülle in einem Aufsatz für das im 100. Jahrgang erschienene, renommierte Sudhoffs Archiv möglich ist, belegt einmal mehr die Überforderung oder Unfähigkeit jener Stahnischs unangebrachte Dankbarkeit geltenden „anonymen Reviewern“, ohne die heute keine Zeitschriftenredaktion mehr auszukommen glaubt.