© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 37/17 / 08. September 2017

Nicht alle Wege führten durch die Savanne
Forschungen zur menschlichen Evolutionsgeschichte / Erkenntnisgewinne von hoher Dynamik
Dieter Menke

Erst als unsere Vorfahren gezwungen wurden, die Wälder zu verlassen, um in der Savanne den aufrechten Gang zu lernen, schlug die Evolution des Urmenschen eine Richtung ein, die zum heutigen Homo sapiens führte. So lautet eine unter Paläoanthropologen – also Wissenschaftlern, die sich mit der Stammesgeschichte des Menschen beschäftigen – bisher kaum umstrittene Hypothese.

Großen Anteil an dieser Entwicklung, die sich vor vier Millionen Jahren in Ostafrika vollzogen hatte, habe ein langfristiger Klimawandel gehabt. Mit dem Wechsel von warm und naß zu kühl und trocken breiteten sich Savannen aus. Die Waldflächen schrumpften hingegen. Demzufolge seien letztlich offene Savannen der „Motor für die Weiterentwicklung früher Homininen“ im ostafrikanischen Graben gewesen.

Wald oder Savannne?

Forscher der New York University, des Hessischen Landesmuseums in Darmstadt und des Frankfurter Senckenberg-Instituts, die seit bald dreißig Jahren im südostafrikanischen Kleinstaat Malawi fossilen Überbleibseln urmenschlichen Lebens nachspüren, arbeiten daran, diese so plausibel klingende „Savannen“-Hypothese zu relativieren. Vor allem Untersuchungen der Geowissenschaftlerin Tina Lüdecke (Senckenberg-Forschungszentrum Biodiversität und Klima/SBiK-F) nähren hier starke Zweifel.

Entschiede allein die Zahl der Fundstellen über die Frage „Wald oder Savannne?“, so räumt Lüdecke in ihrer jüngsten Studie ein, wäre das Resultat allerdings eindeutig (Senckenberg. Natur – Forschung – Museum, 3-4/17). Denn die meisten Homininen-Fossilien stammen aus der nördlichen, heute in Äthiopien, Kenia und Tansania von Grassavannenlandschaften geprägten Hemisphäre des gigantischen Grabensystems, das sich über Tausende Kilometer von Mosambik bis nach Somalia erstreckt.

Lüdecke konzentrierte sich jedoch auf den südöstlichsten Zipfel des Grabens, das Karonga-Becken im Norden Malawis, eine der ärmsten und zugleich von den üblichen afrikanischen Plagen Bevölkerungsexplosion, Analphabetismus, Korruption und Kriminalität heimgesuchten Volkswirtschaften weltweit. Ungeachtet einer derart tristen Gegenwart, die nichts vom staunenswerten Prozeß der Zivilisation ahnen läßt, könnte hier, in der „Wiege der Menschheit“, ihr Ausgangspunkt liegen.

Wo Lüdecke gräbt, fanden sich in den 1990ern in circa 2,4 Millionen Jahre alten plio-pleistozänen Ablagerungen Kieferfragmente des „Nußknacker-Menschen“ (Paranthropus boisei) sowie ein gut erhaltener Unterkiefer von Homo rudolfensis. In dieser Landschaft der „Malawi-Homininen“ überwiegen heute aber Bäume und Büsche. Die Savannenregionen Sambias und Tansanias beginnen erst hundert Kilometer weiter nördlich. Es ist aber nicht auszuschließen, daß die Bewaldung des Karonga-Beckens jüngeren Ursprungs ist und die Paläohabitate von Paranthropus boisei und Homo rudolfensis vor zwei bis drei Millionen Jahren mithin Savannen glichen.

„Wie geht man nun vor“, fragt Lüdecke, „wenn man die Habitateigenschaften innerhalb der letzten vier Millionen Jahre erforschen will?“ Man sammelt Sedimentproben und Fossilien für geochemische Analysen. Karbonatknollen aus dem Boden am Malawisee sowie insgesamt 122 fossile Zahnschmelzproben von vierzehn pflanzenfressenden Großsäuger-Gattungen brachte Lüdeckes letzte Exkursion ein. Ein Massenspektrometer lieferte davon dann in Frankfurt isotopische Fingerabdrücke, Kohlen- und Sauerstoffsignaturen, die noch nach Millionen von Jahren verraten, welches Wasser und welche Pflanzen ein Individuum zu sich nahm. So ist festzustellen, in welchem Ökosystem Pflanzen, Tiere oder Homininen gelebt haben. Für den Norden Malawis ergab die Analyse eine seit 4,3 Millionen Jahren konstante und dominierende Baum-Vegetation. Die klimatischen Rahmenbedingungen blieben über diesen langen Zeitraum stabil. Das Untersuchungsgebiet ähnelte also nie der benachbarten Savannenregion.

Innovative Verfahren zur Altersbestimmung

Solche beständigen paläoökologischen Bedingungen in einer bewaldeten Savanne würden die Schlußfolgerung erlauben, „daß die Anpassung der frühen Menschen nicht zwangsläufig an die Entstehung offener Grassavannenlandschaften gekoppelt war“. Also seien Paranthropus boisei und Homo rudolfensis „wohl doch insgesamt flexibler in der Wahl ihres Lebensraums als bisher angenommen“.

Lüdeckes Studien stehen exemplarisch für die hohe Forschungsdynamik in der Paläoanthropologie, einer Wissenschaft, der man vor vierzig Jahren keine wesentlichen Fortschritte mehr zutraute, weil sie methodisch ihre Grenzen erreicht zu haben schien, wie sich Jean-Jacques Hublin, der Direktor des Leipziger Max-Planck-Instituts (MPI) für evolutionäre Anthropologie, an seine Studienzeit erinnert. Dank verfeinerter spektroskopischer Verfahren, wie sie auch Lüdecke nutzt, hat sich das Blatt heute aber gewendet. Im munteren Reigen jagen sich Entdeckungen, Revisionen alter Erklärungsmodelle und die Produktion neuer Hypothesen. 

So gelang es im MPI-EVA, mit der neuen Methode der Paläoproteomik Spuren von Proteinen in steinzeitlichen Knochen nachzuweisen und sie als Überreste einer kleinen Neandertalerin zu identifizieren, die vor etwa 40.000 Jahren in der burgundischen Grotte du Rennes starb. Da Proteine in uraltem Knochenmaterial zehnmal länger als DNS überdauern, lassen sich präzisere Informationen zur Stammesgeschichte von Homo sapiens und Verwandten wie dem Neandertaler mit der „ziemlich revolutionären“ Proteomik gewinnen als auf dem bisherigen Königsweg der DNS-Analyse. Schon eine winzige Knochenprobe genüge, um zu bestimmen, ob ein Kollagen vom Knochen eines modernen Menschen oder eines Neandertalers stamme (Max-Planck-Forschung, 2/17).

Innovative Verfahren, die dem MPI im Frühsommer mit der Altersbestimmung von Fossilien aus der marokkanischen Höhlenfundstelle Jebel Irhoud den jüngsten publikumswirksamen Erfolg verschafften. Mit der Thermolumineszenzdatierung, die ermittelt, wieviel Zeit seit der Energiezufuhr ins Kristallgitter des Materials – etwa durch Sonnenlicht – vergangen ist, bescheinigten die MPI-Forscher den nordafrikanischen Schädel-, Kiefer- und Zahnfragmenten ein Alter von 315.000 Jahren.

Sie lassen damit nicht nur vermuten, „der Homo sapiens könnte gut 100.000 Jahre älter sein als gedacht“, sondern nähren zudem Zweifel an der fast dogmatisch geltenden Annahme über den ostafrikanischen Ursprung des modernen Menschen. Da aber die Dinge in der evolutionären Anthropologie so sehr im Fluß sind, folgte auf die MPI-Hypothese postwendend die Kritik angelsächsischer Kollegen aus Pittsburgh und London: Den marokkanischen Relikten fehlen typische Merkmals des modernen Menschen: markantes Kinn und hohe Stirn (Spektrum der Wissenschaft, 8/17). 

Senckenberg Biodiversität und Klima Forschunsgzentrum: www.bik-f.de

Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (MPI-EVA): www.eva.mpg.de/german/