© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

„Die Entmachtung der Bürger“
Lohnt es sich, zur Bundestagswahl zu gehen? Der Verfassungsrechtler Hans Herbert von Arnim ist skeptisch. In seinem neuen Buch „Die Hebel der Macht“ schildert er die Übernahme von Staat und Demokratie durch die Parteien
Moritz Schwarz

Herr Professor von Arnim, gehen Sie am 24. September zur Wahl?

Hans Herbert von Arnim: Ja. 

Warum? 

Arnim: Ganz ehrlich? Aus einer gewissen Gewohnheit heraus. Zur Wahl gehen hat etwas Rituelles.

Nicht, weil Wahlen etwas ändern? 

Arnim: Das eben bezweifele ich. 

Weshalb?

Arnim: Nach Abraham Lincoln setzt Demokratie Herrschaft durch das Volk voraus. Das aber ist bei uns immer weniger der Fall. Für Raimund Popper bieten Wahlen die Möglichkeit, Regierungen ohne Blutvergießen wieder loszuwerden. Nun schauen wir mal auf den 24. September: Wenn die Umfragen nicht wieder danebenliegen, ist das „Duell“ zwischen Merkel und Schulz längst entschieden. Egal welche Konstellation eintritt, ob Schwarz-Rot, Schwarz-Gelb, Schwarz-Grün oder Schwarz-Grün-Gelb – immer heißt die Kanzlerin: Merkel. 

Das ist Folge unseres Verhältniswahlrechts. 

Arnim: Gewiß, bei Mehrheitswahl bräuchte es keine Koalitionen. Dann würden in der Regel die Bürger entscheiden, wer die Regierung bildet. Aber auch bei uns wurden früher Lagerwahlkämpfe, etwa zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Grün, geführt, und der Wähler konnte so tatsächlich die Regierung bestimmen. Heute legt sich kaum eine Partei vor der Wahl fest. Ergebnis: Der Wähler weiß nicht, wem seine Stimme letztendlich zugute kommt. Das bestimmen vielmehr Parteiführer nach der Wahl in Koalitionsverhandlungen über die Köpfe der Wähler hinweg. Wer etwa für Grüne oder FDP votiert, weiß nicht, ob er für oder gegen Merkel oder Schulz stimmt. Damit verliert die Demokratie ihr zentrales Element: die Bestimmung der Regierung.

Aber ist es nicht nachvollziehbar, daß die Parteien sich nicht festlegen? 

Arnim: Aus machtpolitischen Erwägungen wollen sie allseitig koalitionsfähig sein. Denn Opposition gilt als „Mist“, so Franz Müntefering. Man muß sich aber klarmachen, was das für die Demokratie bedeutet: Es trägt zur Entmachtung des Souveräns bei. 

Reicht dieser eine Mißstand wirklich aus, um von Entmachtung zu sprechen?

Arnim: Das ist nur ein Beispiel. Unsere Entmachtung findet in allen Bereichen des politischen Systems statt, hier ein wenig, dort ein bißchen. Jedes Beispiel für sich erscheint nicht so dramatisch, läßt sich irgendwie aus der Situation heraus erklären. Im ganzen betrachtet aber ist der Vorgang fatal. 

Haben Sie weitere Beispiele? 

Arnim: Mein Buch ist voll davon! Nehmen Sie die Grünen. Die sind an vielen Landesregierungen beteiligt und können so via Bundesrat wichtige, sprich zustimmungspflichtige Gesetze blockieren. Und das, obwohl sie bei der letzten Bundestagswahl lediglich 8,4 Prozent der Stimmen erlangt haben. So kann sich eine kleine Partei über den Willen der großen Mehrheit hinwegsetzen. Übrigens ist das möglich, weil im Bundesrat jede Enthaltung, die bei uneinigen Koalitionsregierungen in den Ländern regelmäßig erfolgt, als Nein-Stimme gezählt wird. Ein Zustand, der längst hätte geändert werden müßen. 

Wer hat sie denn in der Hand, „Die Hebel der Macht“, wie Ihr Buch heißt, wenn nicht wir, das Volk? 

Arnim: Die Parteien. Sie sitzen mitten im Staat an den Schalthebeln der Macht. Hinter der formalen Fassade von Parlament und Regierung bringen sie ihre Interessen an Status, Macht und Geld in alle staatlichen Entscheidungen ein. Vor allem bestimmen sie die Regeln des Machterwerbs und Machterhalts: das Wahl- und Parteienrecht, die Besetzung von Ämtern und die Einführung und Ausgestaltung der direkten Demokratie. 

Sie kritisieren also nicht die hervorgehobene Stellung, die die Parteien per Grundgesetz haben, sondern wie sie mit der Macht umgehen?

Arnim: Nach dem Grundgesetz wirken die Parteien bei der politischen Willensbildung des Volkes mit. Doch darüber sind sie inzwischen weit hinausgegangen. Aus der Parteiendemokratie des Grundgesetzes haben sie einen reinen Parteienstaat gemacht.

Wer ist schuld daran? 

Arnim: Parteien sind Machterwerbsorganisationen. Um so wichtiger sind Mechanismen und Institutionen unserer Verfassung, die den Machthunger der Parteien einhegen könnten – etwa die Gewaltenteilung, der Parteienwettbewerb, der durch Wahlen entschieden wird, oder die Gerichte. Diese Einrichtungen funktionieren aber nur sehr eingeschränkt. 

Warum? 

Arnim: Weil die Parteien auch sie in ihrem Sinne ausgestalten – dabei sind sie sich einig, bilden politische Kartelle und entmachten den Wähler erst recht. So entschärfen die Parteien etwa die Gewaltenteilung, indem die Parlamentsmehrheit nicht nur die Regierung wählt, sondern sie auch gegen Kritik der Opposition verteidigt, so berechtigt diese auch sein mag. Fast jeder Minister einschließlich der Kanzlerin hat auch ein Parlamentsmandat, von den vielen Parlamentarischen Staatssekretären ganz zu schweigen. Wie aber soll sich die Regierung selbst kontrollieren? Auch besetzen die Parteien im Proporz die Spitzen der Rechnungshöfe und die Gerichte und bevorzugen dabei oft Personen, von denen sie erwarten, daß sie ihnen nicht weh tun. Ein berühmtes Beispiel war der Verfassungsrichter Gerhard Leibholz, dessen aberwitzige Parteienstaatslehre – die Volk, Staat und Parteien in eins setzte – in der damals jungen Bundesrepublik vom Bundesverfassungsgericht übernommen wurde.

Ein Konstruktionsfehler des Grundgesetzes?

Arnim: In der Tat waren sich die Väter und die vier Mütter des Grundgesetzes offenbar nicht bewußt, welche Gefahr für Demokratie und Staat von den Parteien ausgehen kann. Eben darum muß heute dringend reformiert werden. Das aber verhindern die Parteien, um ihre Herrschaft nicht zu gefährden.

Greifen die Parteien denn tatsächlich nach der Macht oder überlassen nicht wir Bürger ihnen diese aus Desinteresse?

Arnim: In ihrem Machtstreben versuchen die Parteien, alle Kontrollmechanismen zu kapern und den Bürgern die Souveränität zu entwinden. Es geht um Posten, Geld und Privilegien, aber nicht nur. Tatsächlich führt das zur Entmachtung der Bürger – zugunsten der Parteien. 

Liest man Ihr Buch, vermißt man allerdings den „rauchenden Colt“ – den entscheidenden Beweis dafür. 

Arnim: Das Problem ist, daß das nicht durch einen einmaligen großen „Bang“ erfolgt. Diese Form der Machtübernahme vollzieht sich unspektakulär, schleichend, alltäglich – Schritt für Schritt. Wobei jeder einzelne Schritt die fatale Entwicklung ein wenig weiter treibt. Oder noch deutlicher: Wir haben uns schon so sehr daran gewöhnt, daß wir das Skandalöse nicht mehr als skandalös empfinden. Wozu nicht zuletzt eine einseitige, beschönigende politische Bildung etwa durch Bundes- und Landeszentralen für politische Bildung und politische Stiftungen beiträgt, – die übrigens ganz in der Hand der Parteien ist und die eine geradezu gehirnwäscheartige Akzeptanz der Bürger für den Status quo bewirkt.

Zum Beispiel?

Arnim: Etwa die staatliche Parteienfinanzierung, über die die Parteien selbst entscheiden und die das Bundesverfassungsgericht gedeckelt hat, um ein In-den-Himmel-Wachsen zu verhindern. Die Parteien aber haben Ersatzeinrichtungen wie Stiftungen, Fraktionen, parlamentarische Mitarbeiter, die vielfach Parteiarbeit machen, mangels Deckelung mit immer mehr anwachsenden, gewaltigen Summen ausgestattet – und verlieren dabei ihre Hauptfunktion, zwischen Staat und Bürger zu vermitteln, immer mehr aus den Augen. Zum Vergleich: Während die direkte staatliche Parteienfinanzierung einen Umfang von etwa 160 Millionen Euro im Jahr hat, erhalten die genannten Ersatzorganisationen jährlich weit über eine Milliarde Euro! Zwar gibt es daran hier und da Kritik, aber keinen Aufschrei – die Öffentlichkeit scheint diesen Betrug nicht zu durchschauen.

Warum bleibt durchgreifende Kritik auch in den Medien und der Politologie aus? 

Arnim: Weil die einzelnen Schritte oft gezielt vor der Öffentlichkeit verborgen werden. Die Politikwissenschaft ist, etwa über die vielen tausend Mitarbeiter von Abgeordneten, die oft von Politologen gestellt werden, mit der Politik verbandelt. Aber es gibt auch Journalisten und Politikwissenschaftler, die das kritisieren, wenn auch außerhalb des Mainstreams der Profession. 

Warum funktioniert das klassische Mittel zur Kontrolle – die Abwahl – nicht? 

Arnim: Eben weil wir, wie beschrieben, keine Wahl mehr haben. Über die zentralen Regeln der Macht entscheiden die Parteien gemeinsam in der „Einigkeit der Demokraten“, so daß der Wähler daran nichts ändern kann.

Aber wir haben doch Alternativen: Zur Bundestagswahl treten 42 Parteien an. 

Arnim: Ja, und wir haben auch dauernd Wahlen – in Kommunen, Kreisen, Ländern, Bund, Europa – und dennoch haben wir de facto fast nichts zu entscheiden. Und was die vielen kleinen Parteien angeht: Diese werden, spätestens wenn sie sich zu einer echten Konkurrenz entwickeln, von den Etablierten diskriminiert, um sie außen vor zu halten. Richard von Weizsäcker hat einmal gesagt, Parteien seien Meister darin, politische Gegner zu bekämpfen. Wer ihnen in die Quere kommt, muß damit rechnen, unter Einsatz aller Mittel bekämpft zu werden – inklusive Hiebe unter die Gürtellinie. Dabei haben die Kleinen eine wichtige Funktion. Die Großen müssen Inhalte der Kleinen übernehmen, wenn diese damit beim Wähler Anklang finden, um nicht Stimmen und Mandate zu verlieren.

Auch Ihnen wurde schon „Radikalisierung“ vorgeworfen, Sie glichen den „Verächtern der Weimarer Republik“ und Ihre Lösungen setzten auf „Führer und Volk“. 

Arnim: Ja, das Diskriminieren und In-die-rechte-Ecke-Schieben ist ein beliebtes Spiel, das man natürlich auch schon mit mir versucht hat. Auch bei allen Mißständen, die ich aufgedeckt habe, bis hin zur Verwandtenaffäre in Bayern, war das die erste Reaktion der Betroffenen. All diese Attacken kann man mental überhaupt nur durchstehen, wenn man dieses Spiel durchschaut und sportlich nimmt.

Der AfD bescheinigen Sie, lobenswerte Reformvorschläge im Programm zu haben. Was würde durch diese besser werden?   

Arnim: Volksabstimmungen auf Bundesebene etwa, die ich schon lange befürworte, wären ein wichtiger Fortschritt. Denn das ist ein Instrument, das der Macht der Parteien etwas Wirksames entgegensetzt und die Souveränität dahin verschiebt, wo sie hingehört: zu den Bürgern. Diese und andere Vorschläge zur Reform der Struktur unserer politischen Willlensbildung sind in der Öffentlichkeit allerdings wenig bekannt, da die AfD hauptsächlich als Anti-Flüchtlings-Partei wahrgenommen wird. 

Wird die AfD ihre Vorschläge aber auch umsetzen oder sich, erstmal im Amt, wie die etablierten Parteien verhalten?

Arnim: Die Frage stellt sich vorerst nicht, da für die AfD realistischerweise ja nur die Oppositionsrolle in Betracht kommt. Ganz unberechtigt ist sie aber nicht. Denn im AfD-Programm fehlen Reformvorschläge dort, wo sie bereits selbst profitiert, etwa bezüglich der überzogenen Bezahlung von Landtagsabgeordneten, der üppigen Bewilligung von Abgeordnetenmitarbeitern und Fraktionsmitteln und deren Verwendung für die Mutterpartei oder der Zahlung von unerlaubten Funktionszulagen.

Sie sprechen im Buch von der „Machtergreifung“ einer „politischen Klasse“ in Gestalt von „Kartellparteien“, die zu einer „Quasi-Einheitspartei“ geworden sind, etc. Diese Begriffe und Denkfiguren gelten heute als typische Indizien für Populismus. 

Arnim: An sich braucht der Populismus-Vorwurf in einer Demokratie nichts von vornherein Schlimmes zu sein. Gemeint ist jedoch die Unterstellung, postfaktisch zu reden und zu argumentieren. Das aber ist wieder das übliche Manöver zur Abwehr unbequemer Kritik. 

Bei diesen Kategorien handelt es sich also nicht um populistische Verschwörungstheorien, sondern um objektive Phänomene? 

Arnim: Ja, das belegen anerkannte wissenschaftliche Arbeiten. Den Begriff „politische Klasse“ legt der Senior der Politikwissenschaft, Klaus von Beyme, einer sorgfältigen Analyse zugrunde. Und den Begriff „Kartellparteien“ haben die renommierten Politikwissenschaftler Richard S. Katz und Peter Mair geprägt. Dabei handelt es sich nicht um populistische, sondern analytische Begriffe. Nein, Populismus kommt eher von der anderen Seite. Die Etablierten verschleiern, daß es ihnen vor allem um die Macht geht, schützen statt dessen das Gemeinwohl vor und argumentieren mit Sachzwängen, die hier in Wirklichkeit gar nicht bestehen. Das nenne ich postfaktisch – und ist eine Art Populismus von oben. Trotz mancher Fragezeichen gibt es keine sinnvolle Alternative zur Demokratie. Sie unterscheidet sich von autoritären Staatsformen, die leicht versteinern und schließlich kollabieren – neben vielem anderen – dadurch, daß sie öffentliche Kritik verträgt. Ja, Demokratie braucht Kritik geradezu, um sich fortzuentwickeln und so ihre Lebensfähigkeit immer wieder unter Beweis zu stellen. 






Prof. Dr. Hans Herbert von Arnim, der renommierte Verfassungsrechtler und erfolgreiche Publizist gilt als einer der profiliertesten Kritiker der sogenannten politischen Klasse. Seit 1981 ist er Professor für Öffentliches Recht und Verfassungslehre an der Deutschen Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer, deren Rektor er von 1993 bis 1995 war. Zuvor leitete er von 1968 bis 1978 das Karl-Bräuer-Institut des Bundes der Steuerzahler. Von 1993 bis 1996 war er Mitglied des Verfassungsgerichtes des Landes Brandenburg. In seinem neuen Buch „Die Hebel der Macht und wer sie bedient“ (2017) diagnostiziert der 1939 in Darmstadt geborene von Arnim die rapide „Denaturierung“ unserer Demokratie hin zu einem „exzessiven Parteienstaat“ und dem stillschweigenden Ende der Volkssouveränität. 

Foto: Parteienkritiker von Arnim: „Wir haben zwar dauernd Wahlen – in Kommunen, Kreisen, Ländern, Bund und Europa –, de facto aber haben wir fast nichts mehr zu entscheiden (...) Über die zentralen Regeln der Macht entscheiden die Parteien gemeinsam in der ‘Einigkeit der Demokraten‘ – so daß der Wähler daran nichts ändern kann.“ 

 

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