© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Pankraz,
A. W. Schlegel und die romantische WG

Das boulevardeske Feuilleton hat ihn ignoriert, den 250. Geburtstag August Wilhelm Schlegels (1767–1845) vorige Woche  am 8. September. Dabei hätte es doch gerade dort so viele Anlässe gegeben, sich zu erinnern!

Zum Beispiel war Schlegel Gründer der ersten „revolutionären“, alle bürgerlichen Schranken ignorierenden „Wohngemeinschaft“ (WG), 1797 in zwei Zimmern in einem Hinterhof, An der Leutra 5, in Jena. Dort lebte er zusammen mit seiner Frau Caroline Böhmer, seinem Bruder Friedrich, dessen Freundin Dorothea Veit und deren zwei kleinen Söhnen aus erster Ehe. Die Dichter Novalis und Tieck sowie der Philosoph Schelling kamen oft zu Besuch und übernachteten auch manchmal dort; Schelling verliebte sich in Caroline, schnappte sie August Wilhelm weg und heiratete sie. 

Friedrich Schiller, wohlbestallter Geschichtsprofessor in Jena und leidenschaftlicher Journalist, der dauernd Mitarbeiter für seine Zeitschrift Die Horen suchte, bandelte mit dem hochgelehrten und schreibgewandten Schlegel an, es kam fast zu einer Art Freundschaft zwischen den beiden. Doch dann las Schiller eines unverhofften Tages plötzlich in der Jenaer Allgemeinen Literaturzeitung eine Hohnrede Schlegels auf sein Lied von der Glocke. Nichts stimme in dem Gedicht, schrieb August Wilhelm, seine Wohngemeinschaft hätte sich „fast zu Tode gelacht“. Da war die Freundschaft zu Ende.


Aber natürlich taugen Leben und Werk August Wilhelm Schlegels weiß Gott nicht nur für boulevardeske Klatschgeschichten. Gewiß, er war eitel und selbstbezogen bis zum Gehtnichtmehr, doch er hatte auch allen Grund dazu, konnte sich die Eitelkeit gewissermaßen leisten. Es gab im Deutschland der Zeitenwende vom achtzehnten zum neunzehnten Jahrhundert gewiß keinen zweiten Intellektuellen, der so gelehrt, so beredsam und kommunikativ gewesen wäre wie August Wilhelm Schlegel, der protestantische Pastorensohn aus Hannover.

„Bescheidener Fleiß und tapfere Tat“ – das war sein Lebensmotto von Studentenzeiten an. „Das Gute wird niemals sterben“, schrieb er in seinem „Prometheus“ von 1797, „solange  bescheidener Fleiß und tapfere Tat Frucht bringen und laben; noch den Enkel schattet das gepflanzte Reis.“ Als den großen Feind von Fleiß und Tapferkeit sah er die Langeweile, die es unermüdlich zu überwinden gelte. „Die Langeweile gleicht schon in ihrer Entstehungsart der Stickluft. Beide entwickeln sich gern, wo eine Menge unfleißiger und untapferer Menschen in abgeschlossenem Raum beisammen sind.“

Seinen Fleiß konnte Schlegel  schon in frühester Kindheit entfalten. Er studierte nicht Theologie, wie sein Vater gewünscht hatte, sondern Philologie und „Sprachwissenschaft“, soweit es dergleichen schon damals gab. Er lernte Latein und Alt- wie Neugriechisch, Englisch, Französisch, Italienisch, Portugiesisch, Arabisch, Türkisch, Indisch (Sanskrit), und zwar alle diese Sprachen mit einer derartigen Perfektion, daß auch der strengste Autochthone nichts dagegen einwenden konnte. 

Schon als Hauslehrer in Holland begann er mit Übersetzungen von Dante, Cervantes, Homer, dem Gilgamesch-Epos. Als er nach Jena kam, konzentrierte er sich auf Shakespeare, von dem er siebzehn Stücke übersetzte, unter anderem „Sommernachts-traum“, „Hamlet“, „Romeo und Julia“, den „Kaufmann von Venedig“. Keine spätere Übersetzung hat den Rang der Schlegelschen, ihre Genauigkeit und poetische Adäquanz, je übertreffen können. Zusammen mit den ebenfalls aus der Romantik stammenden Übersetzungen von Dorothea Tieck und Wolf Graf von Baudissin gelten sie noch heute als der Shakespeare in deutscher Version.


Es läßt sich schwer übersehen: Romantik und Realismus gehören bei Shakespeare wie bei Schlegel zusammen. Wer der Wahrheit nahe bleiben will, so die Botschaft der von August Wilhelm Schlegel gegründeten „frühromantischen“ WG in Jena, darf die Wirklichkeit nicht im Stile von Descartes und anderen Rationalisten auf logisches Denken reduzieren, sondern er muß auch die dunklen und unaufklärbaren Seiten des Lebens in die Wissenschaft und vor allem in die Poesie hereinlassen. Das Leben insgesamt ist nun mal keine simple Rechenaufgabe, selbst wenn à la Schiller Glocken dazu läuten.

Wer ihm beikommen will, ohne sich zu langweilen, muß Fleiß und Tapferkeit aufbringen. Für August Wilhelm Schlegel kam die Stunde der Tapferkeit mit Napoleons Eroberungspolitik, gegen die er zähen Widerstand leistete und deshalb Diskriminierung und Herabwürdigung hinnehmen mußte. Keine Universität bot ihm mehr einen Lehrstuhl an. Selbst Goethe als Wissenschaftsminister  in Weimar, der sich schon mit der Berufung des Frühromantikers Schelling an die Universität Jena die Finger verbrannt hatte, verschloß sich, obwohl er Schlegel als Wissenschaftler sehr schätzte und oft um seinen Rat nachsuchte.

Schlegel, der inzwischen als gutbezahlter Kindererzieher von der legendären Madame de Staël im Schweizerischen Coppet engagiert worden war, emigrierte schließlich nach Schweden, wo er bald als Regierungsrat und Sekretär in die Dienste von Jean Baptist Bernadotte, des künftigen schwedischen Königs, eintrat und eifrig dessen antinapoleonischen Kurs unterstützte. Nach dem Ende Napoleons kehrte er nach Deutschland zurück und wurde an die neugegründete Universität Bonn berufen – auf einen Lehrstuhl für Indologie!

Über seine letzten Bonner Jahre als einflußreicher Ordinarius gibt es eher sanft sarkastische Berichte. Kollegen und Schüler, unter ihnen Georg Niebuhr, Ernst Moritz Arndt, Heinrich Heine, machten sich lustig über sein pompöses Auftreten bei den Vorlesungen, weiße Glacéhandschuhe, teure, mit Rubinen geschmückte Taschenuhren, intensiv wahrnehmbarer Parfümduft. Auf dem Bonner Alten Friedhof ist sein prächtiges Grabmal, neben dem Grab des Komponisten Robert Schumann, die Hauptattraktion – und zwar zu Recht.