© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

Unbewältigte Vergangenheit
Deutscher Herbst 1977: Als der linksextreme Terror der RAF die Bundesrepublik in Atem hielt
Karlheinz Weißmann

Deutscher Herbst“ ist eine Chiffre. Sie steht nicht nur für die Ereignisreihe, die im Oktober 1977 mit dem Selbstmord der Terroristen Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe endete. Sie steht auch für deren Deutung im Geist einer halboffenen, halbverdeckten Sympathie für den „Volkskrieg“ der Rote Armee Fraktion (RAF). 

In Umlauf kam sie durch den Film „Deutschland im Herbst“, eine Pseudokumentation, die suggerierte, daß die Bundesrepublik ein fast faschistischer „Überwachungsstaat“ geworden sei, mit einer Bevölkerung, die danach giere, Köpfe rollen zu sehen. Auf seine Parteinahme angesprochen, äußerte einer der Regisseure, Volker Schlöndorff: „Nach so einer Arbeit mit diesem Film, nach den Erfahrungen, die man dabei macht, fragt man sich nicht mehr, warum gibt es sogenannte Terroristen, sondern wie kommt es, daß es nicht viel mehr gibt. Wie kommt es, daß nicht alle um sich schlagen.“ Schlöndorff erhielt 1978 mit den übrigen Verantwortlichen das „Filmband in Gold“ des Deutschen Filmpreises für „Deutschland im Herbst“, die höchstdotierte kulturelle Auszeichnung der Bundesrepublik.

Terrororganisation wie bei den frühen Bolschewiki

Die Entwicklung, die 1977 an einen vorläufigen Schlußpunkt kam, hatte zehn Jahre zuvor begonnen. Am 2. Juni 1967 war der Student Benno Ohnesorg in West-Berlin vom Polizisten Karl-Heinz Kurras erschossen worden (JF 23/17). Das Entsetzen und der Abscheu über diese Tat führten zu einer massiven Politisierung und Radikalisierung von Teilen der jungen Generation. Die hätte allerdings ein relativ kurzlebiges Phänomen bleiben können, wäre sie nicht von kleinen, aber entschlossenen Gruppen genutzt worden, um weitergehende Ziele zu erreichen. Eine zentrale Rolle spielten dabei der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS), dessen informeller Führer Rudi Dutschke und sein Freund Bernd Rabehl. 

Dutschke hatte früh begonnen, sich mit den Theorien des Partisanenkrieges zu befassen und wollte Ernesto „Che“ Guevaras Konzept der „Stadtguerilla“ auf die westeuropäischen Verhältnisse übertragen. In einem Gespräch, das er und Rabehl im Herbst 1967 mit dem Schriftsteller Hans-Magnus Enzensberger führten, äußerte sich Rabehl zur Notwendigkeit, in die „Illegalität“ zu gehen, und „Illegalität, wenn sie nicht dilettantisch bleiben will, bedeutet, daß man gegen den Staatsapparat operiert, daß also gerade das psychische Moment des Friedens zurückgenommen wird und eine streng disziplinierte Organisation entsteht“.

Die Idee einer solchen „streng disziplinierten Organisation“ wurde Fleisch in Gestalt der RAF. Deren Kern bildete das Paar Baader und Ensslin. Die beiden empfanden Überdruß am folgenlosen Revolutionsgerede der linken Studenten. Am 14. April 1968 brannten sie in Frankfurt zwei Kaufhäuser nieder und wurden kurz darauf verhaftet. Ihre Behauptung, die Tat sei Ausdruck der Empörung über die amerikanische Kriegführung in Vietnam gewesen, beeindruckte das Gericht so weit, daß es gewisse „ideelle“ Motive der Tat anerkannte. Trotzdem erfolgte die Verurteilung wegen gefährlicher Brandstiftung. 

Da Horst Mahler, der Anwalt Baaders und Ensslins, Revision gegen das Urteil einlegte, wurden die Verurteilten auf freien Fuß gesetzt. Sie nutzten die Gelegenheit, flohen zuerst nach Frankreich, dann nach Italien. Dort suchte sie Mahler auf, mittlerweile „Spinne im Netz“ (Wolfgang Kraushaar) der militanten Linken und entschlossen, eine Terrororganisation nach dem Muster der frühen Bolschewiki zu schaffen. 

Gemeinsam tauchte man unter und kehrte heimlich in die Bundesrepublik zurück. Allerdings wurde Baader bereits im April 1970 festgenommen. Mahler plante daraufhin eine spektakuläre Befreiungsaktion unter Beteiligung der Journalistin Ulrike Meinhof, die sich als vierte der Gruppe anschloß. Schon im Untergrund und steckbrieflich gesucht, sandte sie eine Tonbandbotschaft an den Spiegel. Ohne Umschweife kam Meinhof auf den inneren Zusammenhang zwischen linkem Denken und linken Taten zu sprechen: „Es ist ja auch eine Tatsache, daß es die Intellektuellen gewesen sind, auch in Deutschland und in Berlin, die die politischen Auseinandersetzungen zu dem Punkt gebracht haben, wo wir jetzt sind. Wir sehen aber auch, daß eben diese Intellektuellen mit ihren theoretischen Konzepten soweit sind, zu wissen, daß Bewaffnung notwendig ist und daß die Revolution nicht gemacht werden wird, ohne daß sich die Revolutionäre bewaffnen; daß sie aber gleichzeitig Leute sind, die den nächsten Schritt, der jetzt zu machen ist – nämlich das, wovon sie reden, auch zu tun –, nicht machen werden.“

Am 22. Juni 1970 flogen Baader, Meinhof, Ensslin und Mahler zusammen mit etwa zwanzig Gesinnungsgenossen – unbehelligt durch die Sicherheitsorgane der DDR – von Berlin-Schönefeld nach Jordanien. In einem Lager der palästinensischen Fatah ließen sie sich militärisch ausbilden. Trotzdem blieb ihr Vorgehen dilettantisch. Mahler wurde bereits am 8. Oktober 1970 verhaftet, dasselbe Schicksal ereilte Baader, Enss-lin und Meinhof nach einer Reihe von ihnen verübter terroristischer Anschläge im Frühjahr 1972. Allerdings erwartete kein Verantwortlicher, daß die Gefahr deshalb schon gebannt sei. Der Staat hatte nach anfänglichem Zögern begonnen, sich zu rüsten: Die Ausgaben für Polizei, Verfassungs- und Bundesgrenzschutz waren massiv erhöht worden, nach einer Grundgesetzänderung wurden deren Befugnisse deutlich erweitert, das Haft- und Waffenrecht verschärft; die Länder stellten eigene Antiterrorkommandos auf, der Bund organisierte nach dem Terroranschlag während der Olympischen Spiele in München 1972 die Eliteeinheit „Grenzschutzgruppe 9“ (GSG 9).

Im Mittelpunkt des juristischen, polizeilichen und geheimdienstlichen Vorgehens standen die „Zweite Generation“ der RAF, die neben ihr agierende „Bewegung 2. Juni“ und die Bemühungen der gefangenen Terroristen, den „Kampf“ aus der Gefangenschaft weiterzuführen. Obwohl mit Hilfe einer Reform des Strafverfahrensgesetzes eine Beschränkung des Zusammenspiels von Verteidigern und Terroristen erreicht werden konnte, blieb die Durchführung der Prozesse gegen Mahler, Baader, Enss-lin, Meinhof und einige andere zeitraubend und schwierig. 

RAF-Desinformation über angebliche Isolationsfolter

Die Angeklagten mit ihren Anwälten Otto Schily und Hans-Christian Ströbele nutzten nicht nur jede Möglichkeit, die ihnen der Rechtsstaat bot, sie betrachteten das Verfahren selbst und dessen Öffentlichkeit als Chance, den „Krieg gegen das System“ fortzusetzen. Ihre wichtigste Waffe war dabei die gezielte Desinformation im Hinblick auf „Isolationsfolter“ und „Vernichtungshaft“, die vor allem von Baader und Ensslin perfekt beherrschte Kombination aus striktem Befehl, Schmeichelei und moralischer Erpressung derjenigen, von denen man wußte, daß sie als nützliche Idioten geeignet waren. 

Dabei handelte es sich vor allem um eine nach Tausenden zählende Sympathisantenszene, bestehend aus akademischem Fußvolk und einer Reihe prominenter Sprecher, deren seifige Kommentare zwar selten justitiabel waren, aber bestimmend für das Klima in der linken wie der liberalen Intelligenz. Die Tonangeber sahen kein moralisches Gefälle zwischen Staat und Terroristen, höchstens eines zwischen Terroristen und Staat, der seine „kleinkarierte, beschissene, feige Denunzianten-Attitüde“ (Heinrich Böll) kultivierte, nur darauf aus, das „Signal zur großen Treibjagd“ (Walter Jens) zu geben. 

Bei der Beerdigung des Terroristen Holger Meins, der sich in der Haft 1974 zu Tode gehungert hatte, grüßte Dutschke mit erhobener Faust und dem Ausruf „Der Kampf geht weiter, Holger!“ Der Versuch, dieser Tendenz öffentlich entgegenzutreten, scheiterte regelmäßig. Als der Sozialdemokrat Herbert Weichmann in einer Rede an der Kieler Universität äußerte, daß die Behauptung der Terroristen, sie kämpften an der Seite der Unterdrückten für eine klassenlose Gesellschaft, verlogen sei und mit der „Befreiung von der Freiheit“ überhaupt enden werde, gingen seine Worte im ausbrechenden Tumult der Studenten unter.

Für zwei Jahre, 1975 und 1976, bestimmte die „Bewegung 2. Juni“ das terroristische Geschehen. Auch der Selbstmord von Ulrike Meinhof am 9. Mai 1976 schien den Bedeutungsverlust der RAF zu bestätigen. Allerdings waren Baader und Ensslin angesichts einer drohenden Verurteilung entschlossener denn je, die verbliebenen Kräfte zu bündeln und einen entscheidenden Schlag zu führen, der ihnen die Freiheit bringen sollte. Das Vorspiel für die „Offensive ’77“ der Rote Armee Fraktion war der Hungerstreik der „politischen Gefangenen“, der am 29. März 1977 begann, eine Woche später wurde Generalbundesanwalt Siegfried Buback durch ein Kommando der RAF ermordet (JF 15/17). Einschüchternde Wirkung auf das Gericht hatte dieses Vorgehen aber nicht. Es verurteilte Baader, Ensslin und den mitangeklagten Jan-Carl Raspe zu lebenslanger Haft. 

Dann folgten am 30. Juli die Ermordung Jürgen Pontos (JF 32-33/17), des Vorstandssprechers der Dresdner Bank, und am 25. August ein – gescheiterter – Raketenwerferangriff auf die Bundesanwaltschaft. Der „Deutsche Herbst“ begann allerdings erst am 5. September mit der Entführung Hanns Martin Schleyers, des Präsidenten des Bundes der Deutschen Arbeitgeberverbände und des Bundes der Deutschen Industrie.

Bundeskanzler Schmidt und das Notstandsgremium

Selbstverständlich hatte die Wahl dieses Anschlagsziels eine symbolische Bedeutung – man wandte sich gegen einen der höchsten Repräsentanten des verhaßten Kapitalismus –, aber das Hauptziel der Operation war doch die Freipressung der verurteilten Terroristen. Daß die RAF solches Entgegenkommen für denkbar hielt, hing damit zusammen, daß die Bundesregierung zwei Jahre zuvor, bei der Entführung des West-Berliner CDU-Vorsitzenden Peter Lorenz durch die „Bewegung 2. Juni“, tatsächlich inhaftierte Terroristen freigelassen hatte. Die verübten aber kurz darauf erneut schwere Straftaten, was den nun amtierenden Bundeskanzler Helmut Schmidt bewog, eine unnachgiebige Haltung einzunehmen. 

Schmidt traf seine Entscheidungen nicht einsam. Er bezog den ad hoc gebildeten „Großen Politischen Beratungskreis“ ein, zu dem neben Kabinettsmitgliedern auch Vertreter der Opposition und die vier Ministerpräsidenten gehörten, deren Länder Terroristen in Gewahrsam hielten. Faktisch handelte es sich um ein im Grundgesetz nicht vorgesehenes Notstandsgremium. Gemeinsam stellte man fest, daß es zwar darum gehe, Schleyer lebend zu befreien, aber die „Handlungsfähigkeit des Staates“ unbedingten Vorrang habe. Während gegenüber den Geiselnehmern Gesprächsbereitschaft vorgetäuscht wurde, erging im Eilverfahren ein Kontaktsperregesetz, mit dessen Hilfe man nicht nur die Zusammenarbeit von Anwälten und inhaftierten Terroristen unterbinden, sondern auch den Kontakt von Baader zu den Entführern verhindern konnte.

Die hatten währenddessen zu einem weiteren Schlag ausgeholt. In abgestimmter Aktion entführte ein palästinensisches Kommando am 13. Oktober die Luft-hansamaschine „Landshut“ mit 82 Passagieren. Trotzdem wich die Bundesregierung nicht von ihrer harten Haltung ab. Bei Tagesanbruch des 18. Oktober stürmte die GSG 9 das nach Mogadischu (Somalia) verbrachte Flugzeug und befreite die Geiseln. Baader, Ensslin und Raspe erkannten die Aussichtslosigkeit ihrer Lage und nahmen sich noch in der Nacht das Leben, gegen Mittag töteten ihre Komplizen Schleyer durch mehrere Kopfschüsse. Sein Leichnam wurde später bei Mülhausen im Elsaß gefunden.

Von der Masse der Bevölkerung wurde dieser Mord als weitere Untat einer verblendeten Minderheit angesehen. Die Atmosphäre, die der Film „Deutschland im Herbst“ vermittelte, beruhte auf verzerrter Wahrnehmung der Wirklichkeit. Er war symptomatisch nur in bezug auf jenen „Kult der Nichtidentifikation“ (Peter Graf Kielmansegg), den die westdeutsche Intelligenz trieb und noch lange treiben sollte. Auch das ein Kapitel unbewältigter Vergangenheit.