© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 38/17 / 15. September 2017

„Zuerst Schulmedizin, dann Akupunktur“
Alternative Heilmethoden sind in Deutschland auf dem Vormarsch, sie bleiben aber heftig umstritten
Hartmut Vossler

Nach einer Allensbach-Umfrage von 2014 haben es drei von fünf Deutschen bei Gesundheitsproblemen schon einmal mit Homöopathie versucht. Dafür geben sie jährlich 500 Millionen Euro aus. Von gefestigtem Vertrauen in die Kompetenz der Schulmedizin zeugt dies nicht. Und der Ruf der einstigen „Halbgötter in Weiß“ leidet seit zwei Jahrzehnten. Nicht nur, weil eine aufmüpfigere Patientengeneration Praxen und Kliniken füllt, sondern auch weil „Krankenhausskandale“ und spektakuläre Fälle von „Ärztepfusch“ die Medien beschäftigen, ebenso wie die betriebswirtschaftlich diktierte „Fließband-Abfertigung“ von Kassenpatienten oder dürftige Heilerfolge bei chronisch Kranken.

Solche Schattenseiten weist nicht nur das ganz auf die Schulmedizin fixierte deutsche Gesundheitssystem auf. Mit ihnen müssen die Patienten überall im globalen Norden leben. Ähnlich fallen international die Reaktionen auf diese Mißstände aus. Voran gehen dabei die USA, gefolgt von Kanada und Australien. Dort eröffnen immer mehr Zentren für integrative Medizin, wie die Berliner Wissenschaftsjournalistin Susanne Donner berichtet (Bild der Wissenschaft, 3/17). Das sind Einrichtungen, in denen Schulmediziner zusammen mit Psychotherapeuten, Heilpraktikern, Yoga-Lehrern und Experten für die traditionelle chinesische Medizin ein Multi-Therapie-Angebot unterbreiten. Zusehends etablieren sich diese Zentren in Europa. Torkel Falkenberg, Leiter des führenden schwedischen Zentrums, berät inzwischen die Weltgesundheitsorganisation (WHO), die 2014 Integrative Medizin (IM) zum Leitmotto ihrer künftigen Gesundheitspolitik gemacht hat.

Zu den IM-Pionieren in Deutschland zählt der Internist Stefan Willich, Direktor des Instituts für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie, der am Campus Charité Mitte (CCM) in Berlin ein der Alternativ- oder Komplementärmedizin Raum gebendes Zentrum einrichtete, das enormen Zulauf hat: „Jeden Monat kommen Hunderte“, darunter chronisch Kranke, die als „austherapiert“ gelten und sogar Krebspatienten, die zusätzlich zu Chemotherapie und Bestrahlung Hilfe suchen.

Seine Doppelkarriere als Arzt und Medizinprofessor einerseits und Violinist und Dirigent, glaubt Willich, habe ihn vor Befangenheiten des Spezialistentums bewahrt. Deshalb stehe er Musik- und Kunsttherapien, Naturheilkunde, Meditation und sogar spirituellen Konzepten wie dem Rosenkranzbeten prinzipiell offen gegenüber. Auch zur Homöopathie bezieht der in Deutschland, den USA und Frankreich ausgebildete Willich nicht die schulmedizinisch übliche dogmatische Position. Statistisch signifikant lasse sich der Nutzen der Globuli nicht belegen, aber er wolle nicht „die Heilerfahrung Tausender Patienten in Abrede stellen“. Diese unbestreitbare Wirkung ist für den Charité-Professor weniger den hochverdünnten, homöopathischen Mitteln zuzuschreiben, als vielmehr dem „Gesamtkonzept“: der „empathischen Beziehung“ zwischen Heilpraktiker und Patient, das die psychosomatischen Heilerfolge zeitige, die Schulmedizinern versagt blieben, weil sie sich nicht „viele Stunden Zeit“ für die Behandlung nehmen können.

30.000 Allgemeinmediziner bieten auch Alternativen an

Die Wissenschaftsjournalistin Anke Brodmerkel bezweifelt die „sanften Versprechen“ alternativer Heilmethoden, Homöopathie, Akupunktur und Hypnose. So sei, wie sie referiert, ein im Mai 2016 von der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Homöopathie (WissHom) präsentierter Forschungsbericht, der aufgrund von Daten klinischer Studien definitiv die therapeutische Effizienz der Globuli nachweisen sollte, von den Ärzten, Pharmazeuten und Naturwissenschaftlern des „Informationsnetzwerks Homöopathie“ als „nicht fundiert“ zurückgewiesen worden.

Auch Cochrane Deutschland, ein Netzwerk zur Bewertung medizinischer Therapien, attestierte dem WissHom-Bericht, „grob getäuscht“ zu haben, weil es sich um wissenschaftliche Nachweise „herumstiehlt“. Ein ganz auf der rigoros ablehnenden Linie der Bundesärztekammer liegendes Pauschalurteil, das durch eine im Auftrag des australischen National Health Council erstellte Übersichtsarbeit des Gesundheitswissenschaftlers Paul Glasziou untermauert werde. Bei keinem der 68 analysierten Krankheitsbilder habe der Professor der Bond Univerity (Brisbane) Belege dafür gefunden, daß Globuli mehr helfen als Placebos.

Günstiger falle der Vergleich mit der „klassischen“ Medizin hingegen für Hypnotherapie und Akupunktur aus. Zumeist Menschen mit Angststörungen und Depressionen, Nikotinsüchtige und Schmerzpatienten suchen Hilfe in der Hypnotherapie. Ein Heilverfahren, das 2006 ein Gütesiegel bekam, als der Wissenschaftliche Beirat Psychotherapie nach der Prüfung zahlreicher Studien ihre Wirksamkeit bei Suchterkrankungen und psychosomatischen Störungen für hinreichend „fundiert“ erklärte. Nicht ignorieren dürfe man indes, merkt Brodmerkel kritisch an, daß es weiterhin an hochwertigen Studien fehle, um etwa positive Effekte bei der Raucherentwöhnung zu belegen.

Geradezu auf Augenhöhe mit der europäischen Schulmedizin scheint sich die Akupunktur, die Paradedisziplin der Traditionellen Chinesischen Medizin, zu befinden. Für imponierende 108 Indikationen empfiehlt die WHO dieses 3.000 Jahre alte Heilverfahren. Inzwischen provoziert ein derart enthusiastischer Zuspruch in den USA ärztliche Traditionalisten zu verschwörungstheoretischen Reaktionen: China wolle sich mit Hilfe der WHO den globalen Gesundheitsmarkt unterwerfen. Tatsächlich gewinnt die Akupunktur aber ganz ohne WHO-Werbung laufend an Attraktivität.

Allein in Deutschland bieten sie 30.000 Allgemeinmediziner an, von denen sich jährlich 15 bis 20 Millionen Patienten Heilung durch den „Nadelstich“ erhoffen. Doch Wunderheilungen bewirkt die Akupunktur nicht. Auch die so überaus großzügig bemessenen 108 WHO-Indikationen sind wissenschaftlich nicht unumstritten. Die Manipulationen der Haut, mit denen die Nadeln Störungen des Energieflusses beseitigen sollen, führen nachweislich nur bei Rücken-, Knie- und Beckenschmerzen sowie bei der Vorbeugung der Migräne zur Linderung der Beschwerden. Darum gilt selbst für einen alternativen Methoden so aufgeschlossenen Arzt wie Stefan Willich: „Zuerst Schulmedizin, nur als zweite Wahl Akupunktur.“





Diskussion um Heilpraktikergesetz

Das Gesetz über die berufsmäßige Ausübung der Heilkunde ohne Bestallung regelt seit 1939 die Berufsausübung von Heilpraktikern. Es wurde 1952, 1992 und 2016 reformiert. Einer Expertengruppe um die Medizinethikerin Bettina Schöne-Seifert gehen die Änderungen nicht weit genug. In ihrem „Münsteraner Memorandum Heilpraktiker“ fordern sie eine Neuregelung. Während Ärzte nach hohen Standards ausgebildet würden, seien „die gesetzlichen Hürden für angehende Heilpraktiker sehr niedrig und verlangen keinerlei wissenschaftlich fundierte, standardisierte oder kontrollierte Ausbildung“, heißt es in dem Papier. „Unbestritten schenken viele Heilpraktiker ihren Patienten Zuwendung und wohltuende Aufmerksamkeit, die diese in der auf Effizienz getrimmten wissenschafts­orientierten Medizin sehr oft nicht finden.“ Um Fehlbehandlungsrisiken zu minimieren, müßten die Heilpraktiker-Befugnisse begrenzt, auf ein Fachgebiet beschränkt und an eine Fachberufsausbildung gekoppelt werden.

Münsteraner Memorandum Heilpraktiker: aerzteblatt.de

Charité-Forschung zur Naturheilkunde: hochschulambulanz-naturheilkunde.de

Dachverband Deutscher Heilpraktikerverbände (DDH): www.ddh-online.de