© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

„Alle sind da unehrlich“
Große Koalition, Rot-Rot oder Schwarz-Grün? Wie geht es nach dem Sonntag weiter? Der Ex-Grüne und CDU-Politiker Oswald Metzger über die Wahl
Moritz Schwarz

Herr Metzger, geht am Wahlsonntag Ihr Traum in Erfüllung?

Oswald Metzger: Sie meinen eine bürgerlich-grüne Koalition?

Sie sind einer ihrer Vordenker – nur waren Sie der Zeit voraus.

Metzger: Ich hatte diese Wunschvorstellung Ende der neunziger, Anfang der zweitausender Jahre, als die Grünen in finanz-, sozial- und wirtschaftspolitischen Fragen noch als Reformmotor galten. Inzwischen haben sich die Grünen aber anders entwickelt – einer der Gründe, warum ich ausgetreten bin. Trotzdem hätte ich nichts gegen eine solche Konstellation.

Kommt Schwarz-Grün?

Metzger: Wenn, dann Schwarz-Gelb-Grün, also Jamaika. Ich tippe, die Union wird am Sonntag schwächer, die AfD stärker sein als in den Umfragen. Folglich würde es für Schwarz-Gelb nicht reichen und für Schwarz-Grün erst recht nicht, da die Grünen wohl die Schwächsten unter den Kleinen sein werden. 

Warum glauben Sie, daß die AfD besser abschneidet als veranschlagt?

Metzger: Weil immer noch viel Unzufriedenheit und eine nicht unerhebliche Anti-Merkel-Stimmung im konservativen Wählersegment herrschen. Das könnte auch, falls die AfD zu stark wird, erneut zu einer Großen Koalition führen. 

GroKo oder Jamaika, was ist denn wahrscheinlicher?

Metzger: Bis vor kurzem hätte ich Jamaika gesagt. Wenn ich nun aber die Schlußphase des Wahlkampfes sehe, glaube ich fast eher an die GroKo. Zumal schon das TV-Duell zwischen Merkel und Schulz streckenweise wirkte, als ob der „Herausforderer“ sich um ein Ministeramt bei ihr bewirbt. Andererseits: Je wahrscheinlicher eine Große Koalition, desto eher werden die Wähler die Kleinen stärken, um eben das zu verhindern. Also – bei aller Expertise, letztlich bleibt das Spekulation. 

Glauben Sie, die Sozialdemokraten haben immer noch nicht begriffen, daß sie in der Großen Koalition nur verlieren?

Metzger: Die SPD wird sich notfalls schon bei der Ehre – Stichwort „staatspolitische Verantwortung“ – packen lassen. Allerdings sicher nicht vor der Landtagswahl am 15. Oktober in Niedersachsen. Was die Union angeht: Bei Schwarz-Gelb hat deren wirtschaftspolitischer Flügel künftig mehr Rückenwind als bisher unter Schwarz-Rot. Wenn dann die Grünen als Partner dazukommen, steht deren linker Flügel relativ alleine in den Koalitionsfraktionen. Das könnte dessen Widerstand provozieren. Sollte Jamaika nur ein paar Stimmen Mehrheit haben, wäre die Gefahr zu groß, daß diese grünen Abweichler die Koalition immer wieder lahmlegen. Daher würde die Union in diesem Fall wohl auf Nummer Sicher gehen und doch lieber auf Schwarz-Rot drängen, um eine sichere Mehrheit zu haben. Hat ein Jamaika-Bündnis aber eine starke Mehrheit und wäre die bei Abstimmungen auch bei grünen Abweichlern verläßlich, erhöht das die Chancen auf sein Zustandekommen wesentlich.  

Wird die SPD nicht doch notfalls auf Rot-Rot-Grün ausweichen, statt sich in einer weiteren GroKo endgültig zu verschleißen? 

Metzger: Nein, auch jenseits der demoskopischen Unmöglichkeit: Angesichts der aktuellen außenpolitischen Situation kann sich die Partei ein Zusammengehen mit der in dieser Hinsicht unzuverlässigen Linken weniger denn je leisten. Dazu kommt die einschneidende Erfahrung der Saarlandwahl. 

Die ist doch schon lange vorbei.

Metzger: Richtig, sie war im März. Damals hat die SPD Rot-Rot nicht ausgeschlossen – und dann überraschend verloren. Diese Niederlage besiegelte das Aus für den Schulz-Effekt.

Angela Merkel gilt bekanntermaßen als „heimliche Anhängerin schwarz-grüner Bündnisse“ („Spiegel“), aber sind auch die Grünen wirklich dazu bereit? 

Metzger: Die grüne Führung will unbedingt an die Macht und wird sich als beweglich erweisen. Natürlich macht man eine Mitgliederbefragung, aber auch bei den Grünen sind die Mitglieder pragmatischer als Parteitage. 

Parteichef Özdemir verkündet, einige man sich in der Klimapolitik, stünde Schwarz-Grün nichts im Wege. Aber gibt es nicht etliche Streitpunkte? Allein die Dieselfrage könnte doch genügen, eine Koalition zu verhindern. 

Metzger: Ja, aber die Grünen sind regelrecht scharf auf Regierungsämter. Und sie haben recht damit, denn nutzen sie erneut die Chance auf Regierungsverantwortung nicht, werden ihnen das viele Wähler übelnehmen. Sie werden für alle Knackpunkte schon einen Formelkompromiß finden. Nach der Wahl wird auch das Dieselthema nicht so heiß gegessen, wie es jetzt gekocht wird.

Oder müssen gar nicht die Grünen, sondern die Union die Kröten schlucken? 

Metzger: Das hat die ja schon getan, etwa mit der „Ehe für alle“ ein wesentliches Hindernis aus dem Weg geräumt.

Damit sind wir beim springenden Punkt: Werden nicht wieder die Konservativen in der Union – so es sie noch gibt – die Zeche zahlen? Motto: CDU-Wirtschaftspolitik gegen grüne Gesellschaftspolitik – das ist doch der klassische Handel. 

Metzger: Stimmt, die Frage ist nur, was hat die CDU da noch anzubieten? 

Die CDU hat alles bereits verscherbelt? 

Metzger: Also mir fällt nichts mehr ein. 

Zum Beispiel bei der Asyl- und Einwanderungspolitik. 

Metzger: Vernünftig wäre, die Grünen setzten ein Einwanderungsgesetz durch, und dafür bekommt die Union eine Reform des Asylrechts, zum Beispiel eine europäische Harmonisierung ohne Einzelfallprüfung – dazu müßte man natürlich die SPD mit ins Boot holen. Denn faktisch erwirbt man sich durch ein Asylverfahren einen mehrjährigen Aufenthalt in Deutschland – plus Versorgung durch das Asylbewerberleistungsgesetz. Das zusammen ist ein Anreiz, der sonst immer weiter zu Problemen führen wird. 

Man braucht nicht viel Phantasie, um sich vorzustellen, wie ein Einwanderungsgesetz unter grüner Regie aussähe: Grenzen auf!  

Metzger: Nein, natürlich muß es auf einer Quote basieren und gewisse Standards formulieren. Und einen Aufenthaltsstatus kann schließlich nur bekommen, wer auf eigenen Füßen steht.

Das sehen Sie so, die Grünen sehen das wohl ideologisch. 

Metzger: Auch die Grünen müssen sich der Realität stellen, und die besteht zum Beispiel darin, daß wir schon eine EU-Einwanderung haben und zusätzlich nicht jeder kommen kann, sondern daß wir Qualifizierte brauchen. Vor einer erneuten Situation wie 2015 haben doch sogar die Grünen Angst. Ich kenne viele ehemalige Grünen-Wähler, die ihnen wegen der Willkommenskultur ihre Stimme nicht mehr geben. Daß die Grünen am Sonntag wohl schwach abschneiden, hat auch damit zu tun. Übrigens ist die Boris-Palmer-Haltung unter grünen Wählern verbreiteter als die Partei wahrhaben will.    

Cem Özdemir wurde von FDP-Chef Christian Lindner im „Fünfkampf“, dem TV-Duell der Kleinen, hypothetisch bereits als Außenminister bezeichnet. War das nur ein Spruch oder schon ein Angebot?

Metzger: Das würde ich nicht überbewerten. Özdemir gegenüber ist Lindner auch das Du rausgerutscht – obwohl ein Du in der Politik nicht viel bedeutet. Natürlich, beide können miteinander. Und solche persönlichen Brückenköpfe sind wichtig für eine Koalition. Allerdings frage ich mich, ob die Grünen sich einen Gefallen tun würden, übernähmen sie tatsächlich das Auswärtige Amt. 

Warum? 

Metzger: Weil die Außenpolitik durch die angespannte geopolitische Lage immer stärker von der Kanzlerin dominiert wird. Und weil sie darauf angewiesen sind, sich innenpolitisch zu profilieren. 

Andererseits attackiert Lindner die Partei: „Für die Grünen sind alle, die ihre Meinungen nicht teilen, dumm, von gestern oder böse. Diese Überheblichkeit ist nervtötend und eine Gefahr für den Wohlstand, wenn Technologien zum Feindbild gemacht werden.“ Was gilt denn nun für die Liberalen?

Metzger: Ich kann mir nicht vorstellen, daß FDP-Wähler Verständnis dafür hätten, wenn sie wegen der Grünen – ohne die es wohl rechnerisch nicht geht – die Regierungsbeteiligung sausen ließen. Ich glaube auch nicht, daß Lindner das will. Er hat die FDP wieder erfolgreich gemacht und weiß, was er tut.

Wieso ist eigentlich ausgerechnet unter dem Apparatschik Lindner, immerhin Generalsekretär der 2013 gescheiterten FDP, die Erneuerung gelungen?  

Metzger: Die FDP hatte in ihrer Regierungszeit viele Fehler gemacht und in der Steuerpolitik „nicht geliefert“. Zu diesen Fehlern gehörte auch die Ausgrenzung des Flügels um den Bundestagsabgeordneten und Euro-Rettungskritiker Frank Schäffler. Ich bin überzeugt, sonst hätte sie 2013 zumindest den Wiedereinzug geschafft. Als Lindner die Parteiführung übernahm, hat er richtig gemacht, was auch die Grünen richtig gemacht haben, als sie 1990 aus dem Bundestag geflogen sind. Er hat sich erst einmal auf Länderebene bewährt – nämlich in NRW, wo er neu gestartet ist und die Partei im Landtag geführt hat. Auf diese Weise „rehabilitiert“, konnte Lindner für den Wähler glaubhaft auch die Bundespartei erneuern. Außerdem: Immer mehr Journalisten haben gemerkt, daß im Bundestag auf die Dauer doch eine wirtschaftsliberale Stimme fehlt.

Sprich, die FDP wurde hochgeschrieben?

Metzger: Die Medien spielen eine wichtige Rolle, das ist nun mal so. 

Oder verdankt die FDP den Erfolg der AfD, die – wie Alice Weidel meint – zu viele bürgerliche Wähler wegen hausgemachter Fehler nicht halten konnte?   

Metzger: Da ist etwas dran, erklärt aber das FDP-Phänomen nicht. Denn Lindner gewinnt Wähler von überall her, auch von den Grünen. Bedeutender als für die FDP dürfte die Beobachtung von Frau Weidel für die AfD selbst sein – auch wenn die Partei nach meiner Einschätzung am Sonntag mehr Stimmen bekommen wird als die FDP. Dennoch hat die AfD viele bürgerliche Wähler, die sich ihr wegen ihrer Euro-Rettungskritik und anfänglich ordoliberaler Positionen zugewendet haben, wieder verschreckt. Denn Äußerungen wie die von Alexander Gauland, Aydan Özoguz nach Anatolien zu „entsorgen“, schlagen gegenüber potentiellen bürgerlichen Wählern alle Türen zu. Wie die Stimmung in der AfD heute ist, beweist selbst Alice Weidel, die intensiv den rechtsextremen Parteiflügel bedienen muß, um innerparteilich Akzeptanz zu finden. 

Im TV-Fünfkampf der kleinen Parteien brachte es Lindner nicht fertig, zum Beispiel in der Frage Rente mit siebzig Klartext zu reden. Sind seine Reformversprechen also überhaupt glaubwürdig?   

Metzger: Das können Sie nicht nur ihm vorwerfen, sondern allen. Im TV-Duell von Schulz wegen der Rente mit siebzig attackiert, hat Frau Merkel ein höheres Renteneintrittsalter klar abgelehnt. Dabei weiß jeder, daß die Babyboomer um 2030 in Rente gehen und folglich die Ausgaben massiv steigen werden. Merkel, Schulz, Lindner – alle sind da unehrlich. 

Eigentlich müßte die AfD da vorstoßen. 

Metzger: Eigentlich müßte sie das, ja. Und ich glaube, Alice Weidel weiß das auch. Aber auch sie hat in der TV-Fünferrunde dazu nur ausweichend reagiert. Auch sie will sich mit dem Reizthema nicht unbeliebt machen. 

„Mut zur Wahrheit“ ist also auch nur ein Spruch? 

Metzger: Scheint so. Da zeigt sich eben der typische Politiker-Opportunismus. Tatsache ist, daß es nun mal nur drei Stellschrauben bei der Rente gibt: Renteneintrittsalter, Rentenniveau und Beitragssatz. Und wer wie etwa die Kanzlerin die wichtigste, das Renteneintrittsalter, quasi für sakrosankt erklärt, der lügt die Leute an. Andererseits muß ich sagen, die Bürger wollen das offenbar auch so. 

Das haben Sie schon in Ihrem Buch „Die verlogene Gesellschaft“ von 2009 beklagt. 

Metzger: Die Politiker tun das, weil die Wahrheit unpopulär ist. Dabei ist mir unerklärlich, wie die Deutschen glauben können, auch in Zukunft wohlbestallt – und möglichst sogar früher – in Rente gehen zu können. Viele Bürger scheinen die Grundrechenarten nicht zu beherrschen. Dänemark hat das Renteneintrittsalter an die steigende Lebenserwartung gekoppelt. Auch wir werden nicht darum herumkommen. Immerhin haben Wolfgang Schäuble und Jens Spahn diese Wahrheit schon laut ausgesprochen. Leider aber hat Frau Merkel sie in unverantwortlicher Weise – als sogenannte „Einzelmeinungen“ – damit alleine gelassen. Auch da müßte eine Jamaika-Koalition ran! 

Wäre der Gewinner von Jamaika eigentlich nicht die AfD?

Metzger: Meinen Sie? 

Würde Jamaika nicht signalisieren, bei denen kann jeder mit jedem, die sind austauschbar und der AfD Zulauf verschaffen? 

Metzger: Na ja, Schwarz-Grün, schauen Sie in die Länder – ja sogar Grün-Schwarz –, ist ja nun wirklich nichts Neues. Nein, das glaube ich nicht. 

Und die Grünen: In vier Jahren Gewinner der Koalition oder ausgesaugte Verlierer, wie die Sozialdemokraten? 

Metzger: Das kann Ihnen keiner voraussagen. Die Grünen haben heute ein ganz anderes Problem. Wo brennt bei ihnen denn noch das Feuer? Die Partei begeistert längst nicht mehr, irgendwie ist der „Drive“ raus. Ob der in Regierungsverantwortung zurückkommt oder endgültig schwindet – das wüßte ich auch gerne.






Oswald Metzger, galt lange als eine der schillerndsten Persönlichkeiten der Grünen, denen er 1987 beitrat. 2007 verließ der vormalige baden-württembergische Landtags- und Bundestagsabgeordnete, der haushaltspolitischer Sprecher der Fraktion war, seine Partei und wechselte zur CDU. Von 2011 bis 2013 war er dort Vize-Bundesvorsitzender der Mittelstandsvereinigung und von 2010 bis 2016 deren stellvertretender Landesvorsitzender in Baden-Württemberg – zudem von 2011 bis 2015 Mitglied im Vorstand der Landes-CDU. 2003 und 2009 erschienen seine Bücher „Einspruch! Wider den organisierten Staatsbankrott“ und „Die verlogene Gesellschaft“. Derzeit leitet Metzger, der 1954 in der Schweiz geboren wurde und in Schwaben aufwuchs, die Initiative „Konvent für Deutschland“ und ist Chefredakteur des Meinungs- und Debattenmagazins The European. 

Foto: Politiker und Publizist Metzger: „Es kommt darauf an, wie stark die Alternative für Deutschland wird“

 

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