© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Jetzt oder nie mehr
Unabhängigkeitsreferendum in Kurdistan: Nicht nur die Position des deutschen Außenministers wird in Erbil mit Befremden registriert
Ferhad Ibrahim Seyder

Mit der Abstimmung des irakischen Parlaments über das bevorstehende Unabhängigkeitsreferendum in der kurdischen Region am 25. September nimmt der Konflikt der Kurden mit der Regierung Abadi und mit der arabischen Mehrheit eine dramatische Wende. 

Das Parlament ermächtigte den schiitischen Ministerpräsidenten Abadi, alle Maßnahmen zu treffen, die die Einheit des Irak garantieren könnten. Die kurdischen Parlamentarier boykottierten die Sitzung vom 12. September, weil diese Ermächtigung auch gewaltsame Mittel gegen die Selbständigkeit der Kurden implizieren kann. Indes wollen die Kurden unbeirrt das Referendum in ihrem Machtbereich durchführen und praktisch den ersten Schritt zur Gründung ihres eigenen Staats gehen. Für den 6. November sind zudem Präsidentschafts- und Parlamentswahlen angekündigt.

US-Ratschläge stoßen auf taube Ohren 

Die Abstimmung des irakischen Parlaments bildet den Höhepunkt der Eskalation, die von den schiitisch-arabischen Machthabern betrieben wird. Bagdad fühlt sich in seiner Position durch den Beistand der EU-Staaten und der USA sowie der Arabischen Liga bestärkt. Die Entscheidungsträger der USA, Außenminister Rex Tillerson, Verteidigungsminister  James Mattis und der Sonderbotschafter der USA in der Region Brett McGurk erklärten in den  vergangenen Wochen wiederholt, daß sie nichts gegen die Selbstbestimmung der Kurden hätten. Das „Timing“ sei jedoch falsch, da der Krieg gegen den Islamischen Staat noch nicht vollendet sei.  

Die Kurden haben sich ihrerseits bereit erklärt, die Durchführung des Referendums zu vertagen, wenn die USA und die anderen Mächte des Westens verbindlich garantierten, daß sie die Durchführung des Referendums zu einem späteren Zeitpunkt unterstützen und das Ergebnis des Referendums akzeptieren würden. Doch die Entscheidung so bald wie möglich durchzuführen ist für die Kurden eminent wichtig. Denn die Regierung der Autonomen Region Kurdistan um Präsident Masud Barzani glaubt, daß die Bedingungen für die Umsetzung des Selbstbestimmungsrechts innerirakisch günstig sind.

Der Irak ist trotz des gewonnenen Krieges gegen den IS ein fragiler Staat. Die schiitische Mehrheit und die sunnitische Minderheit sind tief gespalten. Sie sind sich vielleicht lediglich bei der Frage der Verhinderung der Gründung eines Kurdenstaates einig. 

Wenn sie ihren Staat, der ohnehin ein De-facto-Staat sei, jetzt nicht gründen, so glauben die kurdischen Politiker, verpaßten sie eine historische Chance, die sich in absehbarer Zeit nicht wiederholen werde. Barzani & Co. setzen auch darauf, daß die schiitischen Machthaber dem Prozeß der kurdischen Staatsbildung möglicherweise zustimmen würden, wenn die Kurden auf die erfolgreiche Provinz Kirkuk und andere sogenannte „umstrittene Gebiete“ verzichteten. Für die Kurden sind diese Gebiete ausgegliedert und zum Teil arabisiert. 

Bereits 1974 bis 1975 hatten sie vor allem wegen Kirkuk einen Krieg geführt, den sie allerdings verloren. Damals fühlten sich die Kurden von den USA, die ihnen die Untersetzung der Selbständigkeit versprochen hatten, verraten. Die USA machten damals auf Kosten der Kurden ihren Frieden mit Saddam Hussein. 

Eine ganze Generation hat sich schon abgekapselt

Diese historische Erfahrung schmerzt  und ist tief in die Seele der Kurden eingegraben. Aus diesem Grund kamen sie dem Wunsch der USA und EU-Staaten sowie der Uno nicht nach, kein Referendum abzuhalten. 

Die Position des deutschen Außenministers Sigmar Gabriel wurde in Erbil mit Befremden registriert. Gabriel hatte erklärt, daß das Referendum die Region des Mittleren Osten destabilisiere. Dies ist jedoch genau die Position des Irans. Teheran vertrat diese Position bei den  mehrmaligen Gesprächen in Erbil. 

Die Kurden fühlen sich verleumdet. Waren es nicht sie, die nach dem Zusammenbruch der irakischen Armee im Juli 2014 die ersten Niederlagen des IS bewerkstelligten. Ist die kurdische Region des Irak nicht immer noch und trotz der vielfältigen Probleme und Herausforderungen eine Oase des Friedens und Liberalität? Wohin flüchteten die Christen und andere Minderheiten, als der IS – einer Naturkatastrophe gleich – den Irak überrollte?

Warum, so vernimmt man aus Erbil, sollten die Kurden mit den Arabern in einem Staat leben? Nach 25 Jahren einer Quasi-Selbständigkeit gebe es keine Gemeinsamkeiten mehr. Eine ganze Generation der irakischen Kurden beherrsche die arabische Sprache nicht mehr. Und wieso sei die Auslandshilfe in Richtung Bagdad gegangen, das den freien Erdölexport unterband und seit 2009 nicht mehr die den Kurden garantierten 17 Prozent des irakischen Haushalts überwies?  

Der Konflikt zwischen Bagdad und Erbil schweißt die Reihen der Kurden eher zusammen. Auch die rebellische Gorran-Bewegung suchte nach dem Votum des Bagdader Parlaments das Gespräch mit den beiden großen kurdischen Parteien – Barzanis Demokratischer Partei Kurdistans (PDK)  und Dschalal Talabanis Patriotischer Union Kurdistans (PUK).






Prof. Dr. Ferhad Ibrahim Seyder ist Leiter der Mustafa-Barzani-Arbeitsstelle für Kurdische Studien an der Universität Erfurt.

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