© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Schulpflicht und verbotener Hausunterricht
Ein deutscher Sonderweg?
Friederike Hoffmann-Klein

Familie B. zieht von Freiburg ins Elsaß. Der Vater ist Lehrer, die Mutter – Hauslehrerin. Was bewegt Eltern dazu, allein deswegen an einen anderen Ort zu ziehen, weil sie ihre Kinder nicht in eine Schule schicken wollen? Eine Konstellation, die immer wieder vorkommt: der Wegzug in ein Land, das Heimunterricht gestattet.

In Deutschland geraten Eltern, die ihre Kinder nicht in die Schule schicken, mit dem Gesetz in Konflikt. Die Kinder werden aus der Familie genommen und in Pflegefamilien oder im Heim untergebracht, die Eltern mit einer Geldbuße belegt. Bei anhaltender Weigerung, der Schulpflicht nachzukommen, kann ihnen das Aufenthaltsbestimmungsrecht entzogen werden, und wenn es ganz schlimm kommt, auch das Sorgerecht. Eingriffsgrundlage ist Paragraph 1666 des BGB. Jugendamt und gegebenenfalls die Gerichte treffen damit Entscheidungen, die tief in das Eltern-Kind-Verhältnis eingreifen und den Kernbereich des Schutzrechts betreffen. Gedanklicher Ausgangspunkt und Rechtfertigung: das Kindeswohl.

1717 in Preußen als Unterrichtspflicht eingeführt, wurde die allgemeine Schulpflicht erst mit der Weimarer Reichsverfassung 1919 gesetzlich geregelt. Ausnahmen gelten nur für besondere Fälle, etwa für Kinder von Diplomaten oder Schaustellern. Die Sanktionen für eine Verweigerung des Schulbesuchs sind, je nach Bundesland, unterschiedlich. Meist handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit, in manchen Ländern sogar um eine Straftat. Begründet wird das gesetzliche Verbot des Homeschooling mit dem Bestreben, Kinder vor sozialer Isolation zu bewahren und zu einem Leben in einer pluralistischen, offenen Gesellschaft zu erziehen.

Kinder müßten auch Einflüssen außerhalb des Elternhauses ausgesetzt werden, so argumentieren die Befürworter der deutschen Lösung. Unser höchstes deutsches Gericht beruft sich auch auf ein „besonderes Interesse“ der Allgemeinheit, „der Entstehung von religiös oder weltanschaulich motivierten Parallelgesellschaften entgegenzuwirken“ und Minderheiten zu integrieren. Diese Auffassung hat das Bundesverfassungsgericht in verschiedenen Entscheidungen bestätigt. Es gehe dabei, wie ausdrücklich betont wird, nicht nur darum, daß die Mehrheit der Bevölkerung religiöse oder weltanschauliche Minderheiten ausgrenze, sondern auch darum, daß diese sich selbst nicht abgrenzten und einem Dialog mit Andersdenkenden verschließen.

Das klingt zunächst neutral und vernünftig. Gleichwohl ist eine ideologische Schlagseite in der Argumentation der Behörden und Gerichte oft nicht zu verkennen, wenn es etwa heißt, Kinder müßten an die in der Gesellschaft vorhandenen unterschiedlichen Auffassungen herangeführt werden (mit der Zielrichtung deren unterschiedsloser Billigung). Die religiösen und weltanschaulichen Auffassungen betroffener Eltern dürften in dieser Argumentation gerade nicht als gleichwertig gelten.

Eltern, die ihre Kinder selbst unterrichten, werden bisweilen – herabsetzend – als „Schulverweigerer“ betitelt (so im Berliner Tagesspiegel). Das Urteil Betroffener, daß Homeschooling in Deutschland kriminalisiert werde, ist nicht ganz aus der Luft gegriffen. Die Gefahr staatlicher oder staatlich geduldeter Indoktrination ist keine bloße Theorie mehr, seit mit sogenannten „Bildungsplänen“ die Ideologie von Gender und sexueller Vielfalt an die Schulen herangetragen werden soll, unter maßgeblicher Unterstützung auch christlicher Parteien.

Zwei Millionen Kinder werden beispielsweise in den USA zu Hause unterrichtet. Diese Kinder verfügen oft über ein hohes Bildungsniveau. Sie sind im Studium erfolgreich und sozial integriert. Ihr bürgerschaftliches Engagement ist 

besonders hoch.

Zwei Millionen Kinder werden beispielsweise in den USA zu Hause unterrichtet. Diese Kinder verfügen oft über ein hohes Bildungsniveau. Sie sind im Studium erfolgreich und sozial integriert. Darüber hinaus zeichnen sich die so unterrichteten Kinder dadurch aus, daß ihr soziales und bürgerschaftliches Engagement besonders hoch ist (vgl. Joseph Murphy, „Homeschooling in Amerika: Darstellung und Bewertung der Bewegung“, 2012; Albert Cheng, „Fördert Homeschooling oder der Besuch von Privatschulen politische Intoleranz? Empirische Belege einer christlichen Universität“, Journal of School Choice, 8/2014, S. 49-68). Dies widerlegt die These einer Notwendigkeit des Schulbesuchs, um Kinder zu sozialen Bürgern zu erziehen.

Überraschend ist dabei auch, daß Untersuchungen mit heimunterrichteten Kindern auf einen Zusammenhang zwischen Homeschooling und Toleranz verweisen. Kinder seien um so toleranter, je mehr sie Kontakt mit Homeschooling hatten. Dies zeigt, daß eine pauschale Sichtweise der Frage nicht gerecht wird. Sie läuft Gefahr, ihrerseits zu einer intoleranten Sichtweise zu werden, die der geforderten Offenheit der Gesellschaft gerade widerspricht. Schulpflicht ist eben keinesfalls der einzige Weg der sozialen Integration. Homeschooling kann deshalb weder ein Gradmesser für die Integrationsfähigkeit in eine pluralistische Gesellschaft noch für akademischen oder beruflichen Erfolg überhaupt sein.

Gleichwohl hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einer Entscheidung aus dem Jahr 2006 die deutsche Schulpflicht als mit europäischem Recht und mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vereinbar gehalten. Prüfungsmaßstab für Beschwerden, die sich gegen ein Verbot des Heimunterrichts wenden, ist in erster Linie Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die Beendigung des Zusammenseins der Eltern mit ihren Kindern durch behördliche Maßnahmen zur Durchsetzung der Schulpflicht stellt einen schwerwiegenden Eingriff dar, der hohe Anforderungen an seine Rechtfertigung stellt. Derzeit ist wieder ein Verfahren vor dem EGMR anhängig. Ob der Straßburger Gerichtshof sich diesmal von den gewichtigen Argumenten der Beschwerdeführer, der Darmstädter Familie Wunderlich, überzeugen läßt, bleibt abzuwarten.

Neben der EMRK schützen weitere internationale Rechtstexte das Recht der Eltern auf Erziehung ihrer Kinder, so beispielsweise Art. 2 des Protokolls Nr. 1 zur Europäischen Menschenrechtskonvention und Art. 18 des Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Danach haben die Vertragsstaaten die Freiheit der Eltern zu achten, die religiöse und sittliche Erziehung ihrer Kinder in Übereinstimmung mit ihren eigenen Überzeugungen sicherzustellen. Zu den Unterzeichnerstaaten gehört auch die Bundesrepublik Deutschland. Auf nationaler Ebene sind die Artikel 6 und 7 des Grundgesetzes zu beachten. Nach Art. 7 GG steht das Schulwesen unter der Aufsicht des Staates. Dies wird aber im Sinne eines umfassenden staatlichen Erziehungsauftrags verstanden – eine Auslegung, die sich der Norm nur schwer entnehmen läßt. Der grundlegende Charakter des elterlichen Erziehungsrechts wird in fast allen europäischen Ländern respektiert. Die belgische Verfassung etwa sieht „freie Wahl der Eltern“ vor und ermöglicht es ihnen damit, sich für Heim­unterricht zu entscheiden.

Die Erkenntnis, daß der Staat keineswegs nur weltanschaulich neutral ist, liegt auch der Kritik zugrunde, die von konservativ-religiöser Seite erhoben wird und die vor allem an die Problematik anknüpft, die für Eltern mit dem Schwimmunterricht, der Sexualkunde und der Evolutionstheorie verbunden sein kann.

Kritik kommt auch von libertärer und anarchistischer Seite. Hier wird das Verbot des Homeschooling als unzulässiger Eingriff in die Rechte und Freiheiten von Eltern und Kindern verstanden. Homeschooling als Instrument der Herrschenden, das zur Indoktrination verwendet wird. Hier schließt sich der Kreis.

 Was nimmt man Kindern, wenn man ihnen die Klassengemeinschaft, die Schulgemeinschaft vorenthält? Das Lernen in der Gruppe, die gegenseitige Konkurrenz – in einem positiven Sinne – ist als Quelle der Motivation nicht 

zu unterschätzen.

Zu den Kritikern zählt der frühere UN-Sonderberichterstatter Vernor Munoz, der in einem 2006 veröffentlichten Bericht darauf hingewiesen hat, daß die restriktive deutsche Schulpflicht die Inanspruchnahme des Rechts auf Bildung mittels alternativer Lernformen (Hausunterricht) ausschließe, ja kriminalisiere. Deutschland ist das nahezu einzige Land in der westlichen Welt, das an einer rigiden Schulpflicht festhalte, statt die Schulpflicht zu einer Bildungspflicht mit umfassender Orts- und Methodenfreiheit weiterzuentwickeln – so lautet auch der Einwand von Hochschulpräsident Dieter Lenzen (Die Welt vom 14. Juni 2015).

Eine Kritik des Homeschooling, die allein an die genannten Kriterien einer Erziehung zu Toleranz und Pluralismus anknüpft, ist jedenfalls wenig überzeugend. Pauschale Behauptungen wie etwa der Vorwurf, die Kinder würden fern jeglicher sozialer Kontakte aufwachsen, dürften selten zutreffen. Sozialpädagogen sprechen gern von „sozialen Verhaltensauffälligkeiten“ – worunter dann auch so harmlose Dinge wie Schüchternheit oder Zurückhaltung der Kinder gegenüber Mitarbeitern des Jugendamts fallen können – oder von „Isolierung“. Hier liegt sicher nicht der Kern des Problems.

Gibt es andere Gründe gegen den Heimunterricht? Hier läßt sich zum einen an den Leistungsaspekt der Schule denken, zum anderen an ihren sozialen Charakter. Was den Aspekt der Leistung betrifft, so liegt der Nachteil des Homeschooling auf der Hand. Selbst bei noch so gut gebildeten Eltern – also im optimalen Fall – kann das Unterrichts- und Leistungsniveau nicht dem einer Schule entsprechen. Daß Eltern in sämtlichen Fächern ein Niveau haben, das demjenigen der hochqualifizierten Fachlehrer vergleichbar wäre, ist von vornherein ausgeschlossen.

Hochqualifizierte und -motivierte Lehrer hatten meine Kinder von der Grundschulzeit an. Persönlichkeiten, die weit mehr vermitteln als nur das Fachwissen. Die die Kinder entscheidend prägten. Was nimmt man Kindern, wenn man ihnen die Klassengemeinschaft, die Schulgemeinschaft vorenthält? Das Lernen in der Gruppe, die gegenseitige Konkurrenz – in einem positiven Sinne – ist als Quelle der Motivation nicht zu unterschätzen. Und den Eltern bleibt die Möglichkeit, ihre Kinder das zu lehren, was sie für richtig halten, auch bei obligatorischem Schulbesuch.

Durch die Erfahrungen anderer Länder lassen sich die Einwände in bezug auf das Bildungsniveau und die soziale Integration zwar relativieren. Dem Argument des notwendigen Leistungsniveaus könnte durch in Abständen stattfindende staatliche Leistungskontrollen begegnet werden. Auch der Einwand, ein gemeinsamer Unterricht von Kindern verschiedener Altersstufen könne nicht zum Erfolg führen, wird angesichts von pädagogischen Modellen wie „Familienklassen“ an Montessori-Schulen abgeschwächt. Sollte man deshalb argumentieren, daß um der Freiheit, um des Prinzips willen Homeschooling zu gestatten sei?

Man muß sicher nicht dem amerikanischen Entwicklungspsychologen Peter Gray folgen, der in seinem Buch „Befreit lernen“ Schule aufgrund ihres Zwangs zur unfreiwilligen Anwesenheit als Gefängnis bezeichnet hat. Auch die Ausgangsthese der Gegner des Homeschooling, daß hierdurch Bildung verhindert werde und dies eine Gefahr für eine freie und demokratische Gesellschaft darstelle, kann widerlegt werden. Im Hinblick auf das Leistungsniveau, für das Schule steht, sind meines Erachtens die Gedanken, die die deutsche Schulpflicht tragen, trotz der Gefahr des ideologischen Mißbrauchs, immer noch überzeugend. Ist nicht „Die Feuerzangenbowle“ ein zeitloses Beispiel für die Unwiederbringlichkeit des Schulunterrichts? Auch wenn solche Lehrerunikate vielleicht seltener geworden sind – die Erfahrung der Schule ist unbezahlbar.






Dr. Friederike Hoffmann-Klein, Jahrgang 1967, arbeitet als Juristin mit Schwerpunkt Eu­ropa- und Kirchenrecht in Freiburg, darüber hinaus als Journalistin und Übersetzerin. Sie ist stellvertretende Landesvorsitzende der Christdemokraten für das Leben (CDL) Baden-Württemberg und Mitglied in deren Bundesvorstand. Auf dem Forum schrieb sie zuletzt darüber, wie Homosexuelle Elternschaft umdefinieren wollen („Angriff auf die Natur“, JF 26/17).

Foto: Hausunterricht in Tennessee, USA: Eine pauschale Sichtweise des Homeschoolings wird der Frage nicht gerecht. Durch die Erfahrungen anderer Länder lassen sich Einwände in bezug auf das Bildungsniveau und die soziale Integration der Kinder relativieren.