© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Der Untertan soll die Bibel lesen können
Vor 300 Jahren führte der „Soldatenkönig“ Friedrich Wilhelm I. in Preußen die Allgemeine Schulpflicht ein / Anwendung zunächst nur sporadisch
Karlheinz Weißmann

Mit folgender Klage begann ein Generaledikt, das Friedrich Wilhelm I. von Preußen am 28. September 1717 bekanntmachen ließ. „Wir vernehmen missfällig und wird verschiedentlich von denen Inspectoren und Predigern bey Uns geklaget, dass die Eltern, absonderlich auf dem Lande, in Schickung ihrer Kinder zur Schule sich sehr säumig erzeigen, und dadurch die arme Jugend in grosse Unwissenheit, so wohl was das lesen, schreiben und rechnen betrifft, als auch in denen zu ihrem Heyl und Seligkeit dienenden höchstnötigen Stücken auffwachsen laßen.“ Weiter stand in dem Gesetzestext, daß ein geringes Schulgeld von zwei „Dreiern“ zu erheben sei, falls Eltern auch diese Summe nicht erlegen könnten, müßte die Gemeinde eintreten. Die Kinder zwischen fünf und zwölf Jahren sollten im Winter täglich, im Sommer – „wann die Eltern bei ihrer Wirtschaft benötigt sein“ – mindestens ein- oder zweimal pro Woche zum Unterricht kommen.

Dieses preußische Gesetz gilt gemeinhin als Geburtsstunde der Allgemeinen Schulpflicht. Allerdings wird zu Recht darauf hingewiesen, daß von einer „Allgemeinen Schulpflicht“ nur sehr bedingt die Rede sein kann. Auch die Macht des „Soldatenkönigs“, der als absoluter Monarch Preußen regierte, reichte nicht so weit, daß er außerhalb seiner Domänen die Adligen zwingen konnte, Schulgebäude zu errichten, Lehrer anzustellen und die Kinder der abhängigen Bauern von der Arbeit weg zum Unterricht zu lassen. Widerstand leisteten außerdem die Eltern, die die billige Mithilfe im Haus und auf dem Hof nicht hergeben wollten. Und dann gab es noch die Einwände der obersten Verwaltungsspitze Preußens, des Generaldirektoriums, das die immensen Kosten fürchtete, die eine konsequent durchgeführte Schulpflicht mit sich bringen würde, selbst wenn man die Aufsicht dem Ortsgeistlichen übertrug und als Lehrer nur den Dorfschneider oder einen invaliden Soldaten anstellte, der sich mit einem zweiten Beruf seinen Lebensunterhalt verdienen mußte.

Schule sollte dazu dienen,  „Christen zu machen“

Friedrich Wilhelm hat immer neue Anstrengungen unternommen, um diese Hemmungen zu überwinden. Er beharrte auf dem Grundsatz, daß jedes Kind die Schule zu besuchen habe. Seine Begründung für eine staatliche Bildungspolitik unterschied sich allerdings radikal von der heute üblichen: „Denn wenn ich baue und bessere, und mache keine Christen, so hilft es mir nit“. Die preußische Schule hatte seiner Meinung nach in erster Linie dazu zu dienen, „Christen zu machen“, weshalb das Lesen und die religiöse Unterweisung ganz im Mittelpunkt stehen sollten, während Schreiben kaum, Rechnen und andere Lehrinhalte gar keine Rolle spielten.

Der Sozialhistoriker Otto Hintze hat deshalb geäußert, daß in den Maßnahmen des Königs lediglich „eine alte Forderung der protestantischen Landesobrigkeiten“ verwirklicht worden sei. Für diese Auffassung kann man geltend machen, daß Luther schon in seinem Sendschreiben von 1524 „An die Ratsherren aller Städte deutschen Landes, dass sie christliche Schulen aufrichten sollen“ die Forderung nach einer Schulpflicht und Finanzierung der Bildungseinrichtungen aus dem „gemeinen Kasten“ erhoben hatte. Angesichts seiner Überzeugung, daß das Verstehen der Heiligen Schrift die Grundlage des Glaubens sei, war es naheliegend, öffentliche Schulen (im Prinzip für Jungen und Mädchen) zu fordern. 

Als Konsequenz entstand in den evangelischen Reichsteilen – vor allem in den Städten – schon seit dem 16. Jahrhundert ein Schulsystem, das deren Bildungsvorsprung bis in die Nachkriegszeit begründete. In einigen Staaten, in Sachsen-Gotha und Württemberg, gab es sogar schon Mitte des 17. Jahrhunderts Versuche, ein flächendeckendes Bildungswesen einzuführen. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang auch der Plan des Großen Kurfürsten von 1662, eine entsprechende Regelung für die Provinz Kleve-Mark zu treffen. 

Insofern gehörten die Maßnahmen Friedrich Wilhelms tatsächlich in eine existierende Traditionslinie. Allerdings war der entscheidende Faktor die besondere Frömmigkeit des Königs. Obwohl als Calvinist getauft, fühlte er sich immer angezogen von der undogmatischen, lutherisch geprägten Glaubensweise der Pietisten. Deren Bewegung wandte sich gegen die Erstarrung des evangelischen Christentums in äußeren Formen und einen vor allem auf Abgrenzung dringenden Konfessionalismus. Ihnen ging es um die „Erweckung“ des „inneren Menschen“, dessen Umkehr zu Gott praktische Folgen im Sinne der christlichen Nächstenliebe haben sollte. Das erklärte ihr besonderes Interesse an Erziehungsfragen.

Aus pietistischem Umfeld stammte auch eine Art protestantischer Fürstenspiegel mit dem Titel „Kurze und deutliche Institution eines jungen christlichen Prinzen, was er in seinem Stand und Regiment in acht zu nehmen“, der der Ausbildung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm gedient hatte. Der Fürst wurde darin gewarnt, daß seine Sünden schwerer wögen als die seiner Untertanen – seiner „Mitbrüder“ – und er gehalten sei, nicht „in wohlriechenden Sachen und mit gebürsteten Haaren“ herumzugehen. Er sollte sich mit „wenigen und gemeinen Speisen“ sättigen und Überfeinerung meiden. Das Büchlein enthielt außerdem Warnungen vor üppiger Hofhaltung, Bausucht, Geldverschwendung, Ausbeutung des Volkes durch Steuern und Vernachlässigung der „gemeinen Werke“. Unter diesem Begriff waren der Bau und die Erhaltung der öffentlichen Gebäude, insbesondere der Universitäten, Kirchen und Hochschulen, gefaßt.

Die Einführung der Schulpflicht war nicht zu trennen vom Glaubensernst des Königs, der in seiner Regierungszeit die Anzahl der preußischen Dorfschulen von 320 auf 1.480 steigern ließ und in vielen Fällen – etwa beim „Retablissement“ Ostpreußens und in Litauen – aus der eigenen Schatulle große Summen für die Errichtung zur Verfügung stellte. Daß es ihm trotzdem nicht gelang, das Ziel zu erreichen und alle Landeskinder in die Schulen zu bringen, war in erster Linie den Zeitumständen geschuldet. 

Erziehung als ein Garant für den Aufstieg Preußens

Aber sein Nachfolger, Friedrich der Große, obwohl als Aufklärer von ganz anderen Vorstellungen geprägt, setzte die Pläne des Vaters fort. Eine wichtige Rolle spielte dabei der Pädagoge Johann Julius Hecker als Friedrichs Berater. Auch Hecker war Pietist und hatte nicht nur eine praxisorientierte Schule gegründet, sondern auch ein „Lehrerseminar“, das den jammernswerten Kenntnisstand der Lehrer heben sollte. Unter seinem Einfluß entstand das „General-Landschul-Reglement“ von 1763, das die achtjährige Schulpflicht für Preußen festlegte. Allerdings besuchten auch danach nur dreißig bis fünfzig Prozent der Kinder die Schule regelmäßig; etwa ein Drittel der preußischen Dörfer blieb weiterhin ohne Schulhaus.

Der entscheidende Schritt zur Verwirklichung der Allgemeinen Schulpflicht konnte erst im Zuge der Preußischen Reformen vollzogen werden. 1817, also einhundert Jahre nach dem Edikt Friedrich Wilhelms, wurde Karl Freiherr vom Stein zum Altenstein das neugegründete Ministerium für Kultus und Unterricht übertragen. Zusammen mit seinem wichtigsten Mitarbeiter, Johann Wilhelm Süvern, verfolgte Altenstein nicht nur das Ziel einer Reorganisation der Universität und des Gymnasiums, sondern auch die Schaffung neuartiger Real- und Gewerbeschulen sowie die tatsächliche Durchsetzung der Schulpflicht in Preußen. 

Das Unterrichtsgesetz von 1819 stellte das preußische Bildungswesen auf eine einheitliche Grundlage und schuf die Basis für das gegliederte Schulwesen, das auf eine Grundschule mehrere – den Fähigkeiten der Kinder angemessene – weiterführende Schulen folgen läßt. Eine Vereinheitlichung des Schulwesens in Deutschland konnte naturgemäß erst nach der Reichseinigung von 1871 ansetzen; die Verfassung der Weimarer Republik hat dann zum ersten Mal eine für ganz Deutschland geltende Regelung der Allgemeinen Schulpflicht getroffen, die im Grundsatz bis heute Geltung hat. 

Die Kritik der Allgemeinen Schulpflicht ist so alt wie sie selbst. Soweit es nicht einfach um Eigennutz geht oder um Vorbehalte religiöser Art, erklärt sie sich aus dem Verlangen, dem Erziehungsrecht der Eltern Vorrang einzuräumen. Allerdings wird bei der Forderung nach Aufhebung der Schulpflicht regelmäßig verkannt, welche außerordentliche Leistung deren Einführung war. Denn sie bedeutete, daß zum ersten Mal in der Geschichte nicht nur einigen privilegierten, sondern grundsätzlich allen Kindern Bildungschancen eröffnet wurden. Ausgerechnet ein Franzose, Ernest Renan, hat die Macht Preußens mit der Geltung der Allgemeinen Wehrpflicht wie der Allgemeinen Schulpflicht erklärt. Die Vorzüglichkeit des preußischen Militärs und die Vorzüglichkeit der „preußischen Erziehung“ hätten beim Aufstieg der Hohenzollernmonarchie zusammengewirkt. Beide hätten dem Bürger das Gefühl der Loyalität eingeflößt, die Schule darüber hinaus das Fundament gelegt für Forschung, wissenschaftliche Kritik und Präzision des Denkens, für die Deutschland seit dem 19. Jahrhundert berühmt war.