© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Wache Sinne und politische Blindheit
Die Briefe Victor Klemperers erweisen sich als unentbehrliche Ergänzung seiner berühmten Tagebücher
Jörg Bernhard Bilke

Daß der Ostberliner Romanistikprofessor Victor Klemperer (1881–1960) dreieinhalb Jahrzehnte nach seinem Tod mit seinen Tagebüchern 1933/45 einmal weltweit bekannt werden würde, war damals, als er in Dresden am 11. Februar 1960 starb, nicht zu erwarten gewesen. Als jüngster Sohn eines Rabbiners in Landsberg an der Warthe geboren, hatte er 1897 die Schule abgebrochen, dann aber 1902 das Abitur nachgeholt und vier Jahre in München, Genf, Paris und Berlin die Fächer Philosophie, Germanistik und Romanistik studiert, ohne freilich irgendein Examen abzulegen. 

Stattdessen heiratete er am 16. Mai 1906 die aus Königsberg/Preußen stammende Konzertpianistin Eva Schlemmer (1882–1951) und führte an ihrer Seite ein unbeschwertes Leben als Zeitungsschreiber. Sechs Jahre später zog er, der 1903 zum Protestantismus konvertiert war, mit seiner Frau nach München, nahm sein unterbrochenes Studium wieder auf und erwarb mit einer germanistischen Arbeit den Doktortitel. Die Habilitation erfolgte 1914 bei dem weithin angesehenen Romanisten Karl Vossler. 

Schon 1915, mitten im Ersten Weltkrieg, an dem er als Kriegsfreiwilliger an der Westfront teilnahm, ging er als Privatdozent nach München und wurde 1920 als Ordinarius an die Technische Universität Dresden berufen. Diese 15 Dresdner Jahre, bevor er 1935 als Jude und NS-Gegner in den zwangsweisen Ruhestand versetzt wurde, waren die wissenschaftlich fruchtbarsten im Leben des in der Neumark geborenen Gelehrten. Noch im Jahr der „Machtergreifung“ 1933 erschien seine Monographie des französischen Barockdramatikers Pierre Corneille (1606–1684). Das 1938 verhängte Verbot für Juden, öffentliche Bibliotheken zu benutzen, machte ihm freilich wissenschaftliches Arbeiten unmöglich. Die staatlich angeordnete Entrechtung der deutschen Juden führte dazu, daß das Ehepaar Klemperer 1940 das sechs Jahre zuvor bezogene Wohnhaus in Dölzschen verlassen und in ein Dresdner „Judenhaus“ umziehen mußte. Noch aber war Victor Klemperer, der seit 1943 in mehreren Dresdner Betrieben Zwangsarbeit leisten mußte, durch die Ehe mit einer „arischen Frau“ vor der Verschleppung in ein Konzentrationslager geschützt.

Während des Angriffs anglo-amerikanischer Bomber auf Dresden am 13. und 14. Februar 1945 konnten Eva und Victor Klemperer, der sich den „Judenstern“ abgerissen hatte, aus der brennenden Stadt entkommen und sich bei einer früheren Hausangestellten in Piskowitz in der Oberlausitz verstecken. Von dort aus erreichten sie in mehrtägiger Flucht über München das Dorf Unterbernbach bei Augsburg, von wo aus sie am 10. Juni 1945 in ihr Haus nach Dölzschen zurückkehrten.

In Dresden trat Victor Klemperer sofort aus der Evangelischen Kirche aus, die ihn nicht vor Verfolgung hatte schützen können. Im Herbst 1945 wurde er in seinem 1935 verlorenen Amt als Universitätsprofessor bestätigt, trat am 23. November der KPD bei und wurde automatisch Ostern 1946 in die neugegründete SED übernommen. Er wurde am 1. Dezember 1945 Direktor der Volkshochschule Dresden und übernahm 1946/47 im „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“ leitende Funktionen und veröffentlichte 1947 sein Buch „LTI“ (Lingua Tertii Imperii) über den Sprachmißbrauch im „Dritten Reich“. Im selben Jahr wurde er an die Universität Greifswald berufen und von dort 1948 nach Halle, wo er bis 1960 lehrte, zugleich übernahm er 1951/55 eine Professur an der Ostberliner Humboldt-Universität. 

Eva Klemperer, die 45 Jahre mit ihm verheiratet gewesen war und die Demütigungen und Erniedrigungen während der NS-Zeit mit ihm durchgestanden hatte, starb überraschend am 8. Juli 1951. Schon im Jahr darauf heiratete er die 25jährige Romanistin Hadwig Kirchner, die er seit 1948 kannte. Sie war in Halle und in Ost-Berlin seine Assistentin und schrieb bei ihm ihre Dissertation über Heinrich Manns zweibändigen Exilroman „Die Jugend und die Vollendung des Königs Henri Quatre“.

Warnungen seines Bruders in den Wind geschlagen

Niemand aber, außer seinen beiden Ehefrauen Eva und Hadwig, wußte zu DDR-Zeiten davon, daß er nicht nur angesehener Literaturwissenschaftler, sondern auch geheimer Tagebuchschreiber war, der unter Lebensgefahr seine Verfolgungsgeschichte 1933/45 aufgezeichnet hatte. Das 1995 unter dem Titel „Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten“ (1.800 Seiten) veröffentlichte Tagebuch begründete seinen Nachruhm.

Der vorliegende Briefband ist eine unentbehrliche Ergänzung zu allen Ausgaben seiner Tagebücher von 1918 bis 1959. Einer der ersten Briefe vom 28. April 1910 war an die deutsch-mährische Schriftstellerin Marie von Ebner-Eschenbach gerichtet, die er ehrerbietig darum bat, sie besuchen zu dürfen. Brieflichen Austausch pflegte er aber auch mit Fachkollegen, die entweder emigriert oder des Amtes enthoben worden waren wie Karl Vossler in München; ein anderer Briefpartner war Werner Krauss, der als Widerstandskämpfer 1944 knapp der Todesstrafe entronnen war und 1947 nach Leipzig berufen wurde.

Victor Klemperer, der den Aufstieg des Nationalsozialismus mit wachen Sinnen beobachtete, war dennoch politisch blind. Sein ältester Bruder Georg Klemperer, Medizinprofessor in Berlin, war weit hellsichtiger und emigrierte im Alter von immerhin siebzig Jahren in die Vereinigten Staaten. In mehreren Briefen beschwor er seinen Bruder, das Land zu verlassen und sich eine „außerdeutsche Unterkunft“ (5. Januar 1934) zu suchen, stieß aber auf taube Ohren. Im letzten Brief vom 22. Januar 1934 klärte er seinen Bruder auf, daß die „arischen Deutschen“ den Juden ihr Deutschtum abgesprochen hätten und sie nun als „Fremdstämmige“ gälten. Die Verabschiedung der „Nürnberger Rassegesetze“ vom 15. September 1935 wird seinen Wunsch auszuwandern nur noch verstärkt haben.

Walter Nowojski, Nele Holdack (Hrsg): Victor Klemperer. Warum soll man nicht auf bessere Zeiten hoffen. Ein Leben in Briefen. Aufbau-Verlag, Berlin 2017, gebunden, 640 Seiten, Abbildungen, 28 Euro