© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 39/17 / 22. September 2017

Gleitflug mit garantierter Bruchlandung
Der deutsche Kohleausstieg, die hochsubventionierte Stromerzeugung und internationale Energiewende
Christoph Keller

Wie erwartet kommentierten unsere Leitmedien die Wirbelstürme „Harvey“ und „Irma“ nach dem „Stechlin-Prinzip“: Wie Theodor Fontane im Altersroman „Der Stechlin“ (1898) schreibt, hänge in der Natur alles mit allem zusammen. Deshalb zeigt der märkische Stechlinsee mit einer Wassersäule an, wenn Javas Vulkane Feuer speien. Heute signalisiert jeder Karibiksturm den journalistischen Klimaexperten, daß man in Europa zuviel fossile Energie verbraucht.

Ganz im Sinne Fontanes schlagen Payal Parekh und Melanie Mattauch den geographischen Bogen sogar bis in die Südsee. Für die beiden Führungskräfte der US-Umweltorganisation „350.org“ trägt nämlich das rheinische Braunkohlerevier, „die größte CO2-Quelle Europas“, nicht unerheblich dazu bei, im Pazifik den Meeresspiegel steigen zu lassen. Auf den Fidschi-Inseln, wo zunehmend Taifune und Zyklone die Wasserversorgung gefährden und landwirtschaftliche Ertragseinbußen verursachen, seien deswegen bis jetzt schon 64 Dorfgemeinschaften umgesiedelt worden, 830 weitere „könnten demnächst folgen“.

Da der britischen Ex-Kronkolonie die Präsidentschaft der 23. UN-Klimakonferenz (COP23) im November in Bonn zugefallen ist, stünden die rheinisch-pazifischen Kausalitäten daher nun ebenso weit oben auf der Tagesordnung wie jene durch eine „aufgeheizte Erde“ bedingte Dürre, die seit nun zwei Jahren Ostafrika im Griff halte und zwölf Millionen Menschen hungern lasse. Die am Massachusetts Institute of Technology promovierte Ozeanographin Parekh und die als „Social Development and Communication“-Expertin weniger kompetente Mattauch schlagen in ihrem Essay zu „Deutscher Kohleausstieg und internationale Energiewende“ entsprechend apokalyptische Töne an, um Deutschland als „größten Braunkohleförderer der Welt“ anzuklagen und Ener-giekonzerne wie RWE zu bezichtigen, die Menschheit „ins Klimachaos stürzen“ zu wollen. Daß in Wahrheit China, die USA, Indien, Australien, Rußland oder Südafrika ein Zigfaches an Steinkohle fördern, unterschlagen die beiden.

Der Unterstützung von Papst Franziskus gewiß

Unter den zwei Dutzend, meist links-grünen Autoren, die das Themenheft „Kohleausstieg“ der Politischen Ökologie (149/17) bestreiten, fallen diese beiden Kassandren zwar durch schrillen Alarmismus aus dem Rahmen. Untypisch für die Anti-Kohle-Front sind sie aber keineswegs. So sehen Parekh und Mattauch die „Klimabewegung“ in den „Fußstapfen der Anti-Atom-Bewegung“. Wie sich vor 40 Jahren die Sorge um die Umwelt zur fundamentalistischen Systemkritik auswuchs, führt die Agitation gegen die Kohle nun zu militanten Formen „zivilen Widerstands“ und des Kampfes gegen den „fossil-nuklearen Kapitalismus“.

Dirk Jansen, NRW-Geschäftsleiter des Umweltverbandes BUND, verweist dafür auf ein „immer breiter werdendes Spektrum der Aktivisten“, die „gewalttätige Auseinandersetzungen“ nicht scheuen. Der „bürgerliche“ BUND, der nur „rechtsstaatlich“ agieren will, verliere daher an Einfluß, weil er vielen Anti-Kohle-Aktivisten als „nicht radikal genug“ gelte. In vertrauter Manier argumentieren neue militante Gruppen wie „ausgeCO2hlt“ vom moralischen Hochsitz aus. Konsequent spitzt die Entwicklungsorganisation Oxfam ihre Kampagne gegen Kohleverstromung auf die Parole „Kohle kostet Leben“ zu.

Der Unterstützung des Papstes darf sie sich gewiß sein, seit Franziskus 2015 in seiner zweiten Enzyklika „Laudato si‘“ zum Ausstieg aus Kohle, Öl und Gas aufrief. Immer mehr kirchliche Organisationen sowie große Pensionsfonds „ziehen ihr Geld aus der Kohle ab“, wie Svenja Künstler von der Klima-Allianz Deutschland zufrieden feststellt. Dieses „Divestment“, der Rückzug aus Investitionen in fossile Energieträger, rechtfertige sich nicht nur aus der Verantwortung für den Klimawandel. Auch Menschenrechtsverletzungen im Steinkohlebergbau, wie im kolumbianischen Departamento del Cesar, die deutsche Energiekonzerne beliefere, sprächen für den Ausstieg. Wobei Künstler nicht zuerst nach Südamerika blickt, sondern an die 120.000 Menschen erinnert, die der Braunkohletagebau hierzulande zur Umsiedlung zwang. Überdies bedrohe gerade der Lausitzer Abbau mit Eisenschlamm und Sulfat die Natur und damit den Tourismus im nahen Spreewald.

Nachts scheint aber keine Sonne

Die Autoren, die die düsteren Aspekte des Themas „klimaschädliche Stromversorgung“ erörtern, glauben sich vom Wind des Zeitgeistes getragen. Rund um den Planeten, so triumphiert der Biologe Martin Rocholl (European Climate Foundation), habe der Ausstieg aus der Kohle längst begonnen. Im Januar 2017 seien weltweit 48 Prozent weniger Kohlekraftwerke geplant und 62 Prozent weniger Neubauten gestartet als im Januar 2016. Wegen Überkapazitäten und enormer Luftverschmutzung stoppte China 2016 Kraftwerksvorhaben mit einer Gesamtleistung von 300 Gigawatt. In den USA gab es 2010 noch 523 Kohlekraftwerke. Eine „beispiellose Kampagne“ des Sierra Clubs, der größten und ältesten US-Naturschutzorganisation, ließ davon 2017 noch 273 übrig. Heute arbeiteten in den USA mehr Menschen in der Solar- als in der Kohleindustrie.

Dagegen nähmen sich deutsche Erfolge im Anti-Kohle-Kampf bescheiden aus. Verwaltungsgerichtlich habe der BUND, worauf Dirk Jansen stolz verweist, 2016 eine Verkleinerung des rheinischen Tagebaus Garzweiler II erstritten. Das könnte der „Einstieg in den Ausstieg aus der Braunkohleförderung“ sein. Der soll sich für Patrick Graichen, den Direktor der Denkfabrik „Agora Energiewende“, „im Gleitflug“ vollziehen. Bis 2030 könne die Stromerzeugung aus Kohlekraftwerken um die Hälfte reduziert werden. Was den Bundeshaushalt, solle der „Strukturwandel ohne Strukturbrüche“ sozialverträglich ablaufen, freilich jährlich 250 Millionen koste, bis 2040 also gut fünf Milliarden Euro.

Die Achillesferse der Energiewende berührt auf den 120 Seiten „Kohleausstieg“ nicht einmal Klaus Schäfer, Chef der konventionellen Eon-Abspaltung Uniper: Können Wind und Sonne fossil-nukleare Energiequellen wirklich ersetzen? Für die wachsende Schar von Kritikern der deutschen Energiewende antwortet darauf der Wissenschaftsjournalist Heinz Horeis: Nachts scheine auch dann keine Sonne, wenn man, wie erforderlich, die heute betriebenen 1,5 Millionen Solaranlagen verzehnfache. Und so wenig wie derzeit 28.000 Windturbinen bei Flaute Strom generieren, täten es auch 150.000 nicht, die man nach dem Kohleausstieg benötige.

Stromerzeugung in Deutschland  www.energy-charts.de