© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Endstation Kufstein
Migration via Italien (letzter Teil): Wenn es mit dem Zug nicht weitergeht, hilft nur noch eins: Fußmarsch durch die Alpen
Hinrich Rohbohm

Der Mann, der es sich auf seiner Sitzreihe im EuroCity von Verona Richtung München bequem gemacht hat, fällt auf. Schwarze Hautfarbe, nackter Oberkörper, keine Schuhe. Seine Füße hat er quer über den Gang auf die Lehne der gegenüberliegenden Sitzreihe gelegt. Er schläft. Der Schaffner wird ihn später bitten, die Beine herunterzunehmen. Er folgt der Aufforderung mit einem Lächeln im Gesicht. Eine Fahrkarte kann der müde Passagier vorzeigen.

Übernächster Halt: Trient. Wie schon in Verona ist auch hier der Bahnhof von Afrikanern stark frequentiert. Im gegenüber befindlichen Park sitzen fast ausschließlich Schwarze auf Bänken und dem Rasen. Sie warten, unterhalten sich, schlagen die Zeit tot. „Es gibt keine Arbeit für uns“, sagt Anthony, ein 31 Jahre alter Nigerianer aus Lagos. 

Seit fast zwei Jahren ist er hier. Wie die meisten ist er mit Schlepperbooten über das Mittelmeer geschickt und später von der Küstenwache aufgelesen und nach Italien verbracht worden. Untergebracht ist er in einem Nachbarort von Trient. 

„Der Park ist unser Treffpunkt, hier kann ich mich mit anderen unterhalten“, schildert er. Nahezu jeden Tag ist er hier. Er hat eine Dauerfahrkarte für den Regionalzug. Morgens fährt er von seiner Unterkunft nach Trient, um Freunde im Park zu treffen. Abends geht es zurück. Ob er weg will? „Natürlich“, sagt er. Er möchte nach Deutschland. Bekannte von ihm leben dort. Aber das sei nicht so einfach, Geld und Papiere fehlen. Ob er es trotzdem versuchen wolle? Dazu schweigt er. 

Im Park herrscht eine hohe Polizeipräsenz. Einsatzkräfte patrouillieren in der Gegend, kontrollieren stichprobenartig die auf den Bänken sitzenden Schwarzafrikaner. Mehrere Polizeifahrzeuge stehen im Park. Ähnlich sieht es eine Station weiter in Bozen aus. 

Auch die Güterzüge werden gründlich untersucht

Wieder ein Park gegenüber des Bahnhofs. Auch hier sitzen oder stehen zahlreiche Afrikaner auf dem Rasen und warten. Die einen auf den Ausgang ihres Asylverfahrens – andere auf den richtigen Moment, weiter nach Norden zu kommen. Dunkelhäutige Männer mit Handys spähen hier ebenfalls die Situation an den Bahngleisen aus, halten Ausschau nach Kontrolleuren und Sicherheitspersonal. 

Eine Station vor dem Brenner ist der schlafende Afrikaner im EuroCity erwacht. Franzensfeste. Letzter Halt vor der italienisch-österreichischen Grenze. Erschrocken blickt er sich um, streift sich sein Hemd über, geht zur offenstehenden Tür. Er blickt hinaus, schaut anschließend durch die Gänge im Zug. Keine Polizei in Sicht. Das ändert sich am Brenner. 

Zunächst sind es italienische Sicherheitskräfte, die den Zug betreten. Paßkontrolle. Bei allen Passagieren. Die Beamten holen einige Schwarzafrikaner, mit Jacken und Rucksäcken bekleidet, aus dem Zug. Nervös blickt sich der zuvor schlafende Mann um. Dann soll auch er seinen Ausweis zeigen. Er hat tatsächlich einen. Die Beamten geben sich zufrieden. 

Wenige Minuten später betritt die österreichische Polizei den Zug. Wieder Paßkontrolle. Die Österreicher schauen sich das Dokument des Mannes noch gründlicher an, halten es gegen das Licht, befühlen das Papier. Aber auch sie lassen ihn weiterfahren. 

Auch die Güterzüge werden gründlich durchsucht. Lichtkegel von Taschenlampen tanzen durch die inzwischen hereingebrochene Dunkelheit, leuchten in Nischen und Ecken, in denen sich illegal einreisende Migranten verstecken könnten. Nicht selten werden die Polizisten fündig. Weil die Personenzüge nun einer stärkeren Kontrolle unterliegen, versuchen es Migranten zunehmend auf diesem nicht ganz ungefährlichen Weg. 

Wenige Stunden zuvor sitzen drei von ihnen auf einer Bank auf der gegenüberliegenden Straßenseite des Bahnhofs. Sie diskutieren, blicken sich immer wieder mißtrauisch um, studieren die Gegend. Schließlich trennen sie sich. Einer von ihnen versucht es auf die dreiste Tour, hält den Daumen raus und will per Anhalter über die Grenze. Zu offensichtlich. Die Polizei wird auf ihn aufmerksam, kontrolliert ihn, hält ihn fest. 

Pro Tag kommen hier zehn Migranten über den Berg

Die anderen beiden gehen raus aus dem Ort, hinauf in die Berge. Ein mühsames Unterfangen, zumal die Nacht hereinbricht und erster Donner und Blitze ein Unwetter ankündigen. „Pro Tag kommen etwa zehn Migranten die Berge herunter in den Ort hinein“, erzählt uns ein Anwohner des österreichischen Grenzortes Gries. Möglich sei dieser Weg des illegalen Grenzübertritts. Aber: „Ohne Klettererfahrung sind die Chancen gering. Außerdem wird es da oben sehr kalt, das unterschätzen viele“, sagt der Mann. 

Manche Migranten benutzen statt des EuroCity den Regionalzug Richtung Brenner. Ein- bis zwei Stationen vor dem Endhaltepunkt verlassen sie den Zug, versuchen so, die Kontrollen zu umgehen und sich zu Fuß durchzuschlagen. „Es tauchen immer wieder mal vereinzelt Afrikaner hier auf“, bestätigt uns eine Wirtin in dem Südtiroler Grenzort Gossensaß auf der italienischen Seite. 

Wir machen nun die Probe mit dem Auto und stellen fest: Hätten wir einen Migranten im Wagen versteckt über die Grenze bringen wollen, so wäre dies ohne weiteres gelungen. Mehrfach. Die Kontrollen auf der Straße erfolgen nur stichprobenartig. 

Unterdessen setzt der EuroCity seine Fahrt fort. Der nächste Halt: Innsbruck. Wieder holen Polizisten Migranten aus dem Zug. Wieder stehen Schwarzafrikaner mit Mobiltelefonen an den Bahnsteigen, lotsen weitere Migranten zu den Zügen. Der zuvor schlafende Mann ist jetzt hellwach. Noch immer sitzt er im Zug. Einen entspannten Eindruck macht er nicht. Die hektischen Blicke bleiben. Raus durch die Zugtür, nach Kontrolleuren Ausschau haltend. 

Später hält der Zug in Kufstein. Letzte Station vor der deutschen Grenze. Jetzt betreten deutsche Polizisten den Zug. Wieder Ausweiskontrolle für alle Reisenden. Diesmal fliegt der Afrikaner auf. „Wir haben bei ihm eine Schengenabfrage gemacht, das taten die Kollegen aus Österreich und Italien offenbar nicht“, verrät uns später ein Polizist. Nach dem Mann wurde bereits gefahndet. Die Einreise nach Deutschland wurde verhindert. Zumindest dieses Mal.