© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Zweifler am Vergöttlichten
Vor 150 Jahren wurde der Industrielle, Schriftsteller und Politiker Walther Rathenau geboren
Eberhard Straub

Im Sommerglück der Julisonne 1914 ergriff vor allem die jungen Europäer ein Taumel. Der unmittelbar bevorstehende große Krieg wirkte wie ein Erlöser, der sie begeistert hoffen ließ: Jetzt kann, jetzt muß sich alles, alles ändern. Walther Rathenau, vor 150 Jahren am 29. September 1867 geboren, teilte damals den Stolz des Opfers und der Kraft, der sich in dieser Erwartung ausdrückte. Doch 1917 erschien ihm dieser Aufbruch aus der bourgeoisen Alltäglichkeit wie ein furchtbares Fest des Todes. 

Freilich: der Tod ist die Voraussetzung für neues Leben. Deshalb lag in dem oft gehörten Rufe „Es lebe der Tod!“ für viele Bürger, die ihrer Welt überdrüssig geworden waren, gar nichts Schreckliches. Alles Gewordene vergeht und schafft neuem Werden Raum. Davon war auch Walther Rathenau überzeugt. Er hatte sich seit Jahren über den frechen Wahnsinn in den Großstadtstraßen, die Arroganz des materialisierten Lebens und die tödliche Indolenz des verantwortungsscheuen, von Geschäften umnebelten Großbürgertums empört, dem er selber angehörte. 

Daran erinnerte er in seinem vor genau hundert Jahren erschienenen Weckruf „Von kommenden Dingen“. Mit ihm wollte er jeden aufmuntern, nicht weiter auf die Mittel und Mittelchen aus der Welt von gestern zu vertrauen, sondern es beherzt zu wagen, in eine neue Zeit aufzubrechen mit einer neuen Wirtschaft und Gesellschaft in einem neuen Staat, erfüllt von einem neuen Geist und neuem Glauben. Neu meinte bei ihm nicht Modernität und Selbstüberholung zur allerneuesten Neuzeit. „Modernität ist Unsinn, Antiquarismus ist Trödel; das kräftig Lebende ist nicht neu und nicht alt, sondern jung.“

Das kräftig Lebende vermißte er in der kapitalistischen Gesellschaft. Sie hatte im Maschinenzeitalter unter der Allmacht des Geldes eine vollständig mechanisierte Kultur hervorgebracht, in der jeder als Berufsmensch entpersönlicht funktionieren sollte. Ein Karrieresprung und die Gehaltserhöhung sind dann der Ruhm solch unverdrossener Leistungsträger und Kompetenzakrobaten. Darüber hatte Walther Rathenau schon oft genug vor dem Großen Krieg geschrieben. In diesem System gibt es keine lebendige Wahrheit, die freimacht von den ökonomischen Zwängen. Auch in der sogenannten Freizeit bleibt jeder weiter den Mechanismen der Zweckgesellschaft verhaftet, jetzt umsorgt von der aufdringlichen Unterhaltungsindustrie und ihrer Angebote, die ihn davor bewahren, auf eigensinnige Gedanken zu kommen. Der Amüsierimpressionismus und seelenlose Arbeit bedingen einander. 

Diese Überlegungen zur Entfremdung des Einzelnen im Maschinenstaat waren nicht neu. Sie wurden seit Schillers Briefen zur ästhetischen Erziehung aus dem Jahre 1795 immer wieder von Rechten und Linken vorgetragen, weil sie aufgrund der stürmischen Entwicklung während des von allen Hemmungen entfesselten Kapitalismus nicht veralten konnten und deshalb immer jung und zeitgemäß blieben.

Welthandel und Weltkriege gehörten für ihn zusammen

Daher rückte alsbald das Geld als alles zersetzende Übermacht in den Mittelpunkt der umfassenden Kulturkritik. Georg Wilhelm Friedrich Hegel wies darauf hin, daß wir im Gegensatz zu sämtlichen früheren Epochen von einer unendlichen Menge von Gegenständen viel wissen, nur nichts von Gott. Wir wollen von Gott nichts mehr wissen. In diesem hochmütigen Standpunkt erkannte er eine Selbsterniedrigung des Menschen, der seine Ebenbildlichkeit mit Gott verleugnet und auf seine Beziehung zum Reich der göttlichen Ideen verzichtet. Walther Rathenau sprach oft von Religion, Seele, Wahrheit und Glauben, nicht weil er mit seinem jüdischen Erbe haderte und doch kein Christ werden konnte oder wollte. 

Ihn beunruhigte die Abwesenheit des alten Gottes, weil die kapitalistische Gesellschaft einem Gegengott mit Menschenopfern diente, nämlich dem Geld. Als Gottesersatz wurde das allmächtige Geld zum Gnadenspender und Sinngeber. Es ermöglicht Wohlstand, Wachstum, Daseinsfülle, die früher mit Gott und sittlichen Ideen verbunden waren. Das Geld ist der höchste Wert, weil in einer Wertegemeinschaft von ihm jeder Wert oder Unwert abhängt.

Das Geld wurde über die wirtschaftliche Macht zum wahren Kriegsgott, da der ununterbrochene Wettbewerb, die Jagd nach dem Vorteil, der Egoismus und die Habgier die antreibenden Kräfte sind, welche Gesellschaft und Staaten in ständiger Aufregung halten ohne Rücksicht darauf, wie viele Menschen dabei zugrunde gehen. Walther Rathenau glaubte nicht an die liberalen Verheißungen, daß freier Handel verbinde und alle Menschen zu Brüdern mache. Welthandel und Weltkriege gehörten für ihn zusammen. Die absolute Herrschaft des Geldes und seiner Hohepriester brauchen die Wirtschaft als Waffe in Wirtschaftskriegen und bei Sanktionen, um lästige Konkurrenten auszuschalten. 

Walther Rathenau wußte als einer der Organisatoren der deutschen Kriegswirtschaft, wovon er sprach und ahnte 1917, welche Folgen eine Niederlage für das Deutsche Reich haben könnte, schon mit der moralischen Diskriminierung des Besiegten als Kriegsschuldige rechnend. Die siegreichen Herren des Kapitals können als Agenten der höchsten Werte jeden unterlegenen Feind vollständig entrechten und ihn als Wertverwahrlosten vorübergehend oder dauerhaft aus der Gemeinschaft der Händler und Verhändler ausschließen. Daß ausgerechnet er als Sachwalter der Auswärtigen Politik in der jungen Weimarer Republik gegen die in Versailles exekutierte vollständige Entrechtung ankämpfen mußte, hätte Rathenau vermutlich nicht geahnt. Daß er in dieser Funktion auch noch den Haß rechtsextremer Kreise auf sich ziehen würde, da sie Rathenaus Engagement gegen die vollständige außenpolitische Isolation, die er 1922 in Rapallo zu durchbrechen versuchte, nicht verstanden oder in ihrer antisemitischen Verblendung mißdeuteten, dokumentiert eine besondere Tragik. Wie Verschwörer um Erwin Kern, einem der Attentäter, die Außenminister Rathenau am 24. Juni 1922 in Berlin ermordeten, später im Prozeß angaben, sei Rathenau als Schlüsselfigur der Regierung, die „sämtliche Fäden in der Hand“ hielte, auf die Todesliste der umsturzbereiten rechtsextremen „Operation Consul“ geraten. 

Rathenau, als früher kritischer Gesellschaftsanalyst, stand nicht allein mit seinem Zweifeln am vergöttlichten Geld und dessen Kultstätten, den Börsen, wo über Erlösung oder Höllensturz entschieden wird. Sein Freund Georg Simmel, Soziologe und Philosoph in Berlin, wandte sich 1900 in seiner „Philosophie des Geldes“ gegen diese ökonomische Theologie. Der damals viel beachtete französische Schriftsteller Charles Péguy, ein Sozialist, der zum katholischen Christentum zurückfand, entlarvte 1913 im Geld als Wirker des Heils den wahren Antichristen, den teuflischen Fürsten der Welt. Georg Simmel und Charles Péguy betrachteten die Ökonomie wie der Spanier José Ortega y Gasset als bloßes Mittel für etwas, was mehr ist als Ökonomie, nämlich als ein Mittel zur richtigen und umfassenden Hausordnung in einem geordneten Staat. 

Traum von der Nation als vitaler Arbeitsgemeinschaft

Solche Erwartungen prägten die geistige Atmosphäre vor 1914. Walther Rathenau, als Sohn des AEG-Gründers Emil Rathenau im Aufsichtsrat der AEG und weiterer siebzig Firmen tätig, der auf der ganzen Erde sein Geld bewegte, dieser Literat, Maler und Schöngeist, der überall Freunde suchte und sich ihnen in fünf Sprachen mitteilte, war viel weltoffener als heutige „Global player“, die sich überall mit ihrem rudimentären Amerikanisch in gleichartigen Arbeitsstätten und Amüsierbetrieben bewegen und diese mit der Welt und der Wirklichkeit verwechseln. Die mobilen Funktionsteilchen feiern sich als weltoffen in postnationalen Zeiten, obgleich nur vertraut mit ihren für sie eingerichteten Masseneinsiedeleien.

Der Kosmopolit Walther Rathenau sah in einer durchrationalisierten Weltmaschine, vom Geld funktionstüchtig gehalten, eine öde Zwangsorganisation. Denn sie bedrohte das besondere Leben, wie es sich in Völkern, Staaten und Nationen mit ihrem unterschiedlichen Geist oder ihrer eigenwilligen Seele unverwechselbar manifestierte. Eine abstrakte Idee wie die der Menschheit wurde darüber erst zu einer anschaulichen und wirklichen Kraft. Deshalb mußten nach seinen Vorstellungen den mannigfachen Lebensformen ihnen gemäße Wirtschaftsformen entsprechen, die der Staat als Sachwalter einer Lebensgemeinschaft ermöglicht.

Den Krieg betrachtete Walther Rathenau als Gelegenheit, dem Staat weitreichende Vollmachten einzuräumen, die Freiheit der Wirtschaft erheblich einzuschränken und die Privatwirtschaft unter der ständigen Aufsicht und des planenden und korrigierenden Staates in eine Gemeinwirtschaft zu überführen. Walther Rathenau vertraute dem freien und mächtigen Staat, aber nicht der freien Wirtschaft und dem Liberalismus aus einer im Kriege zusammenbrechenden altersschwachen Welt. In der freien Wirtschaft dominierten für ihn die trennenden Interessen und vereinzelte Gewinnstreber. 

Die vom neutralen Staat gelenkte Gemeinwirtschaft richte sich hingegen nach gemeinschaftlichen Ideen, um die Nation endlich als vitale Arbeitsgemeinschaft zu konstituieren. Das hieß vor allem, die Klassen untereinander zu versöhnen und durch gleiche Chancen jedem zu erlauben, im vollsten Sinne seines Glückes Schmied und ein freier Mann zu werden.

Wie viele Retter der deutschen Seele – Wissenschaftler, Dichter, Philosophen oder Theologen – hatte dieser Unternehmer, der sich auch als Denker, Reformer und Politiker begriff, überhaupt keine Angst vor dem Sozialismus. Ihm ging es um Durchlichtung und Durchlüftung Deutschlands, auch zum Vorteil eines pedantischen und lebensfeindlichen Bürokratismus der Sozialdemokraten. Die Gemeinwirtschaft brauchte Bildung, damit der Eintracht stiftende Gemeinsinn alle Staatsbürger durchdringt und sie von den ökonomisch-mechanischen Abhängigkeiten befreit. 

Im geistig und seelisch wachen Volksstaat findet der ganze Mensch zu sich, allseitig bewegt und nicht mehr auf ein Bruchstück reduziert wie der Berufsmensch, der Produzent, der Konsument oder der Verkehrsteilnehmer. Ein Wachstum der Seele ist dann der Quell des allgemeinen Wohls in einem Staat, der sich als Ordnung versteht und die etablierte Unordnung unter dem Druck des wirtschaftlichen Wachstums endlich überwindet. Ganz anders als es sich Walther Rathenau wünschte, ist allerdings der Geldgottesdienst indessen zum Staatskult und jeder Tag zum Feiertag in der Börse geworden. Dort kommt Freude auf, der schöne Götterfunken, unter den vom Geld Gesegneten, die keinen Staat und kein Recht und keine Ordnung brauchen, ja diese Dreieinigkeit als reaktionären Anschlag auf ihre Bewegungsfreiheit fürchten und sie daher um jeden Kredit zu bringen bemüht sind.