© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Fritz Fischers allerletztes Aufgebot
Frust in der Geschichtswerkstatt: Zwei linke Hobbyhistoriker versuchen, Christopher Clarks Thesen zu 1914 zu widerlegen
Werner Lehfeldt

Im Jahre 2012 hat es der in Cambridge lehrende australische Historiker Christopher Clark in seinem Buch „The Sleepwalkers. How Europe Went to War 1914“ unternommen, die schließlich in den Ersten Weltkrieg mündende Julikrise 1914, „das komplexeste Ereignis der Moderne“, möglichst in ihrer ganzen Komplexität zu durchdringen und darzustellen, ohne sich durch die Suche nach dem einen angeblich Hauptschuldigen den Blick auf dieses Geschehen von vornherein verengen zu lassen (JF 16/13). 

Nach dem Erscheinen der deutschen Übersetzung im Jahr darauf ist dieses Werk auch in Deutschland breit rezipiert und in zahlreichen, nicht selten kritischen Rezensionen diskutiert worden (JF 42/13). Da Clark die Erörterung einer Schuldfrage entschieden ablehnt, weil sie notwendigerweise auf eingebauten Annahmen basiere, und er sich bei dieser Ablehnung ausdrücklich auf die in den sechziger Jahren von Fritz Fischer und dessen Schülern vertretene These bezieht, die deutsche Reichsleitung habe den Kontinentalkrieg jahrelang konsequent geplant und trage die Hauptverantwortung für den Ausbruch des Krieges, war es nur eine Frage der Zeit, wann in Deutschland der „Anti-Fischer“ Clark in die Schranken gewiesen werden würde. 

Deutschland „durch und durch“ expansionistisch 

Dies tun nun der Filmemacher und Buchautor Klaus Gietinger und der ehemalige PDS-Bundestagsabgeordnete Winfried Wolf, die schon mit dem Titel ihres Buches – „Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst“ – polemisch zu erkennen geben, worum es ihnen zu tun ist. Ihr Vorgehen ist exakt das Gegenteil des von Christopher Clark befolgten Verfahrens: Der für den Kriegsausbruch angeblich Hauptverantwortliche, die Führung des Deutschen Reiches, steht von vornherein fest, denn Deutschland sei „immer ein Stück weit chauvinistischer, militaristischer, undemokratischer, expansiver, imperialistischer, kriegstreiberischer und kriegsverbrecherischer als die Staaten der Entente“, sei „durch und durch“ expansionistisch und aggressiv gewesen. Die Außenpolitik der Ententemächte wird entsprechend dieser These so gut wie ausschließlich und höchst oberflächlich als defensive Reaktion auf den Kriegstreiber Deutschland in den Blick genommen. 

Christopher Clark wird von Gietinger, dem Hauptverfasser, in vulgärster Manier abgekanzelt. Die ganze Methodik des „Preußenfreunds“ und „Nebelwerfers“ Clark, der sich „mit den Deutschen, ja mit Wilhelm II.“ identifiziere und dessen Helden „die aggressiven Deutschen“ seien, sei „nur eine einzige Verschleierung der deutschen Schuld“, sei „manipulative Geschichtsschreibung“, „Verzerrung“, „grobe Verfälschung“, zeuge von „demagogischer Energie“, propagiere „in seinem Kern ein nahezu weltkriegsunschuldiges Deutschland“, sei ein einziger „Rollback“ gegen die „stimmige These“ von Fischer, liege mit seiner Antithese jedoch „absolut falsch“. Natürlich wird Clark auch vorgeworfen, er honoriere nicht „die zahlreichen Versuche Greys“, des „einzigen wirklichen Konfliktvermeiders in leitender Position einer Großmacht“, „den Weltkrieg zu verhindern“, er verhöhne diesen sogar. 

Nicht zuletzt dieser Vorwurf wirft ein deutliches Licht auf die Methode von Gietinger: Gerade die jüngere angelsächsische Literatur zum Weg in den Ersten Weltkrieg, etwa die Bücher von Douglas Newton, Gerry Docherty, oder Jim Macgregor, in denen im Detail aufgezeigt wird, daß und wie Edward Grey – im Zusammenwirken mit Premier Asquith, Churchill als Erstem Lord der Admiralität und Lordkanzler Haldane – vom Beginn der Julikrise an entschlossen war, Großbritanniens militärische Intervention an der Seite Frankreichs und Rußlands durchzusetzen, und in dieser Haltung Entscheidungen traf, die den Kriegsbeginn beschleunigten, sowie Schritte unterließ, die geeignet gewesen wären, den Krieg zu vermeiden, wird schlichtweg vollständig ignoriert. 

Nicht viel anders verfährt Gietinger im Hinblick auf die neuere Literatur zur Rolle Rußlands und Frankreichs in der Julikrise, die höchstens in kurzen Nebenbemerkungen (Sean McMeekin) oder in einer Fußnote (Stefan Schmidt) abgetan wird. „Die Russen“ erscheinen hier immer noch als diejenigen, die den europäischen Krieg bis zuletzt in Verhandlungen lösen wollten, wird uns die „Konfliktvermeidungsstrategie“ des Außenministers Sergej Sasonow präsentiert.

Im Umgang mit historischen Fakten zeigt sich Gietinger äußerst großzügig: Miroslav Spalajkovic, der serbische Gesandte in Sankt Petersburg, avanciert zum Außenminister, die Legende vom Bombardement Belgrads durch die Österreicher am 29. Juli, das, wie der gleichfalls ignorierte Friedrich Würthle bereits 1975 gezeigt hat, niemals stattgefunden hat, wird dem Leser gleich mehrmals als Auslösung des Kriegs Österreich-Ungarns gegen Serbien aufgetischt usw. usf.

Im Schlußteil des Buches – das übrigens in einer die Regeln der deutschen Grammatik souverän mißachtenden, beinahe infantilen Stammelsprache abgefaßt ist – schlägt Gietinger eine Brücke in die Gegenwart: „Clark ist ein Historiker seiner Zeit. Und diese Zeit ist die eines neuen Imperialismus (...), in dem unter dem Vorwand der Terrorismus-Bekämpfung Weltpolitik betrieben wird, wobei die deutschen Regierungen und die seit der Wiedervereinigung erstarkten deutschen Eliten in diesem Zusammenhang eine wichtige Rolle spielen“. „In einer solchen Situation erscheint es mehr als opportun, die Deutschen von der Last ihrer Geschichte wenigstens teilweise zu befreien.“ Eben dies tue Christopher Clark, indem er in die „Urgründe der deutschen Seele“ abtauche und sie „gründlich bauchpinselt“. Zu diesem Zwecke schlage er „eine gigantische Materialschlacht“, „die aber in Wirklichkeit ein selektives Vorgehen kaschiert“.

Ein Leser, der über ein festgefügtes linkes Weltbild verfügt und nicht ge-neigt ist, dieses Weltbild durch welche Argumente, Einsichten und Analysen auch immer selbst nur ansatzweise in Frage stellen zu lassen, wird von dem Opus der Antiseelentröster Gietinger und Wolf bestens bedient, wird sich von „Clarkscher Fantasy“, einer „Fantasy pur“, nicht beirren lassen. 

Klaus Gietinger, Winfried Wolf: Der Seelentröster. Wie Christopher Clark die Deutschen von der Schuld am Ersten Weltkrieg erlöst. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2017, broschiert, 345 Seiten, 19,80 Euro