© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Ein gewaltiges Potential für die Energiewende
Agrophotovoltaik soll die Konkurrenz zwischen Solarenergie und Ackerfrüchten beenden
Christoph Keller

Jeden britischen Meister des Understatements läßt eine solche Feststellung vor Neid erblassen: „Die Ener-giewende erhöht den Druck auf den ländlichen Raum.“ Sie stammt von dem Wissenschaftsjournalisten Michael Brüggemann und will die Lage von Landwirten nördlich des Bodensees beschreiben (Natur, 8/17). Dort wachsen inzwischen auf einem knappen Fünftel der Äcker Agrarrohstoffe, um Biodiesel, Äthanol („Super E10“) und Biogas zu gewinnen. Eine Energiepolitik, die die grün-schwarze Stuttgarter Landesregierung forciert und die in den Landkreisen auf Zustimmung stößt.

Auch daß die AKW Philippsburg und Gundremmingen, die derzeit dort noch die Hälfte des Stroms liefern, spätestens 2022 vom Netz gehen, wird begrüßt. Der „Druck“, von dem Brüggemann spricht, dürfte sich dann bis über die Schmerzgrenze hinaus verstärken. Denn die Biogasproduktion läßt sich zu Lasten der Nahrungsmittelerzeugung „kaum noch erhöhen“. Für Windkraft fehlt, in einer Tourismus-Region kaum verwunderlich, die Akzeptanz: „Seit Jahren wehren sich die Bürger am Bodensee gegen eine Verspargelung der Landschaft.“

Kartoffeln, Weizen, Kleegras und Sellerie

Aus diesen Kalamitäten soll eine 1987 geborene „visionäre Idee“ von Adolf Goetzberger, dem Gründer des Freiburger Fraunhofer-Instituts für solare Energiesysteme (ISE), befreien: Agrophotovoltaik. Mit Unterstützung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) und Agrarexperten der Universität Hohenheim ist im Herbst 2016 in Herdwangen-Schönach – zehn Kilometer nördlich vom Bodensee – die erste deutsche Agrophotovoltaik-Anlage entstanden. Der mit 3.400 Quadratmetern gut überschaubare Versuchsacker wird von der Hofgemeinschaft Heggelbach bewirtschaftet. Hier findet der Anbau von Kartoffeln, Weizen, Kleegras und Sellerie unter einem fünf Meter hohen Dach aus Solarmodulen statt. Auch Milchkühe, so hoffen die Demeter-Bauern, sollen einmal zwischen den Stahlträgern der Module weiden.

ISE-Forscher und ihre Heggelbacher „Versuchskaninchen“ glauben ein Jahr nach dem Start bereits, das Ei des Kolumbus entdeckt zu haben. Der Ackerboden erlaube zukünftig eine „doppelte Ernte“: Nahrung und Sonnenergie. Die Anlage benötige 70 Prozent weniger Fläche, um den gleichen Ertrag zu erzielen, als wenn Photovoltaik und Getreideanbau getrennt stattfinden. Dies leiste einen Beitrag gegen die Landverknappung, die nicht zuletzt durch Energiepflanzenanbau und die „Zupflasterung“ von Äckern mit Solarmodulen dramatische Ausmaße annehme. „Wir heben die Konkurrenz zwischen Solarenergie und Nahrungsmitteln auf“, und trotzdem entstünden „neue Flächen für die Energiewende“, freut sich ISE-Projektleiter Stephan Schindele.

Das Konzept stößt auch bei Obstbauern auf reges Interesse. Mit 1.600 Betrieben ist die sonnenreiche Bodenseeregion eines der wichtigsten deutschen Obstanbaugebiete, dessen Spitzenposition nach Einschätzung vieler Erzeuger allerdings durch den Klimawandel bedroht werde. Seit Ende der 1960er, so zitiert Brüggemann einen Verbandsfunktionär, häufen sich Hagelschäden, leide man von Jahr zu Jahr mehr unter langen, den Äpfeln regelmäßig einen „Sonnenbrand“ bescherenden Hitzeperioden und sintflutartigen Regenfällen. Deshalb spannen die Obstbauern seit 1998 Hagelnetze über ihre Apfelbäume, um sie vor Hagel und UVB-Strahlung zu schützen. Da solche Netze jetzt ohnehin die Hälfte der Anbaufläche überdecken und „keinen schönen Anblick“ böten, spreche aus ästhetischen Gründen nichts dagegen, die Gesamtfläche mittels Agrophotovoltaik zu überdachen.

Die häßliche Kehrseite einer „visionären Idee“

Dies minimiere die Produktionskosten und verbessere nebenbei die Ökobilanz der Äpfel. Zum Kühlen der Äpfel nämlich, die bei drei Grad den Winter über frisch gehalten werden müssen, um dem Verbraucher jederzeit „knackig-frische Ware“ bieten zu können, verbrauche man derzeit teuren Kohle- oder Atomstrom, den demnächst dank Agrophotovoltaik Solarenergie ersetze.

Allerdings: Solaranlagen in Deutschland erzielen wegen des stärkeren und längeren Lichteinfall zwei Drittel bis drei Viertel ihres Jahresertrags im Sommer. Schnee reduziert im Winter zusätzlich die Stromausbeute. Solaranlagen lieferten 2014 zwar nicht einmal ein Viertel des via Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) gepäppelten „Grün“-Stroms. Ihre Besitzer kassierten aber 10,2 Milliarden Euro – 48 Prozent der EEG-Förderung.

Die ISE-Ingenieure sind zudem realistisch genug, um den Pioniercharakter ihres Projekts korrekt zu taxieren. So ist nicht einmal ansatzweise erforscht, „unter welchen Bedingungen sich Apfelbäume unter Fotovoltaikanlagen wohlfühlen“. Eine Frage, die auch für Wein oder Hopfen noch zu beantworten wäre. Einer immerhin für den Obstanbau bereits konzipierten Testanlage fehlt bisher die Genehmigung. Zweifelhaft scheint ferner, ob das Solardach genug Regen durchläßt, ob die Schattenwürfe der Stahlträger und ihrer Moduldächer nicht das Wachstum vieler Feldfrüchte hemmen. Bei Pflanzen mit hohem Lichtbedarf, vor allem beim Mais, sinkt der Ertrag jedenfalls. Andere, wie Kartoffeln und Zwiebeln, für die Schindele auf einschlägige Studien verweist, „wachsen im Schatten sogar besser“. Vorausgesetzt, der Abstand zwischen den Solarmodulen werde im Unterschied zu konventionellen Freiflächenanlagen um 60 Prozent erweitert. So großzügig müsse man zudem deshalb planen, damit breite Landmaschinen bei der Ernte leichter rangieren können.

Der nicht in Abrede gestellte Bandwurm an Problemen, zu deren Lösung der Heggelbacher Feldtest beitragen soll, hindert die ISE-Forscher indes nicht an vollmundigen Versprechungen. Laufe alles nach Plan, steht für Schindele felsenfest, daß das Potential der Agrophotovoltaik „gewaltig“ sei. Den hohen Preis, den die Allgemeinheit entrichtet, wenn das Pilotprojekt in Serie geht, deutet der ebenfalls mit viel Talent zum Understatement begabte Fraunhofer-Mann wohlweislich nur an: „Agrophotovoltaikanlagen im großen Stil werden die Landschaft verändern.“

Vielleicht ist es diese häßliche Kehrseite der „visionären Idee“ des heute 88jährigen Physikprofessors Adolf Goetzberger, und nicht ausschließlich die bis etwa 2005 extrem hohen Kosten für Photovoltaik, die deren Umsetzung so lange verzögert hat. Denn weltweit schützen schon rund 50 solcher Anlagen Weinreben vor Hitze, beschatten Weizen und Kohl – von Italien bis Japan. Ihr „gewaltiges Potential“ wurde indes dennoch nirgendwo entfesselt.