© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 40/17 / 29. September 2017

Der Flaneur
Der Heimat verbunden
Paul Leonhard

Der Mann hält sein Gesicht dem Himmel entgegen. Die Augen sind geschlossen. Er genießt sichtlich die lauwarme Herbstsonne. Auf dem Tisch strahlt ein Pils. Ein Rentnerehepaar schiebt sich heran. „Hier sind doch sicher noch zwei Plätze frei?“ fragt die gemütlich rundliche Frau. Der Mann blinzelt und deutet auf die freien Stühle: „Nehmen Sie Platz.“

Das Ehepaar bestellt. Erst Bier, dann ein warmes Gericht. Das Paar tauscht sich über die Tageserlebnisse aus. Dann hält es die Frau nicht mehr aus. Sie nimmt Kontakt auf: „Schön haben Sie es hier, Sie sind doch von hier?“ Der Genießertyp richtet sich auf. An der Ostsee sei er geboren, später in den Westen abgehauen, und nun sei er hierher gezogen. „Ich bin überall zu Hause. Ich habe immer loslassen können.“ Auch in München habe er zehn Jahre gewohnt. Schön sei es da gewesen, aber der Fön und die Mietpreise.

Wer als Rentner Grips hat, ziehe hierher. Der Mann schwärmt von den grünen Parks.

Hier in der Kleinstadt zahle er lediglich 300 Euro warm für eine sanierte 60-Quadratmeter-Dreiraumwohnung im Gründerzeitviertel im Stadtzentrum. Das Ehepaar glaubt sich verhört zu haben. Doch der Sonnenhungrige nickt: „In München war ich mit 1.000 Euro der letzte Penner, hier bin ich ein König.“ Wer als Rentner Grips hat, ziehe hierher. Der Mann schwärmt von den grünen Parks, der Infrastruktur, billigen Immobilien, kurzen Wegen, Theater, Bergen, Seen, Böhmen und Schlesien in der Nähe. „Es ist gut, daß wir diese Landschaft 1990 dazubekommen haben.“ 

Das Ehepaar schaut nachdenklich auf den gemächlich dahinfließenden Fluß. „Und ist hier noch was frei?“ fragt der Mann schließlich interessiert. „Alles ist frei.“ Der Neu-Einheimische deutet auf die Häuser. Aufwärts gehe es in der Stadt nur, wenn 20.000 Rentner zuziehen oder sich ein Industriebetrieb ansiedelt. „Aber die Kinder und die Enkel, die wären dann weit weg, zu weit weg“, sagt die Frau nachdenklich. „Ich glaube, wir sind zu heimatverbunden für einen Umzug.“