© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

„Bewährungsprobe für das Parlament“
Warum gefährdet die Kanzlerin unsere Demokratie? Wieso ist die FDP wichtig? Und warum sollten wir mit der AfD ganz anders umgehen als bisher? Die ehemalige Politikberaterin Gertrud Höhler über Deutschland nach der Wahl
Moritz Schwarz

Frau Professor Höhler, was bedeuten vier weitere Jahre Kanzlerin Merkel?

Gertrud Höhler: Wissen wir, ob es wirklich vier Jahre werden?

Sie rechnen mit vorzeitigem Rücktritt? 

Höhler: Die Initiative müßte gar nicht von der Kanzlerin ausgehen. Ich denke eher an innen- wie außenpolitische Umstände. 

Welches Szenario schwebt Ihnen da vor? 

Höhler: Es gibt in Deutschland eine tiefe Verunsicherung, und wir wissen nicht, wie sich diese unter dem Eindruck einschneidender Großereignisse entwickeln wird. Oder ich denke an die Frage, ob die kommende Regierungskoalition solche überstehen oder vielmehr daran zerbrechen könnte.  

Erinnern Sie sich, wie oft früher von „Kohl am Ende“ die Rede war ... 

Höhler: Es muß nicht so kommen – aber ich halte es auch nicht für ausgeschlossen. Ich erinnere etwa daran, daß wir weder in Deutschland noch in der EU eine Lösung – noch nicht mal eine Einigung darüber – haben, wie wir mit der weiter schwelenden Flüchtlingskrise umgehen wollen. 

Warum nimmt die Kanzlerin angesichts solcher Herausforderungen mit Wolfgang Schäuble nun ausgerechnet ihren bei der Unionswählerschaft vermutlich angesehensten Minister aus dem Kabinett? 

Höhler: Meine These: Ein Bundestagspräsident Schäuble könnte politisch eleganter ins Amt des EU-Finanzministers wechseln, um dort die drohende Haftung der starken für die schwachen Volkswirtschaften zu verzögern. Multifunktional ist der Jobwechsel allemal: Er liefert Spielmaterial für die Kanzlerin im Jamaika-Roulette. 

Nach wie vor ist unklar, wie in einer solchen Koalition CSU und Grüne – Stichwort Obergrenze – zusammenpassen sollen. Können Sie das erklären?  

Höhler: Eben das ist ein Knackpunkt und führt zu der Frage, welchen Schaden die CSU in diesem Bündnis nehmen wird. Denn ein großer Teil der Wähler und Mitglieder der Partei ist ja jetzt schon der Meinung, daß man in der Flüchtlingsfrage zu weich gegenüber der Kanzlerin war. Und so wird sich vermutlich die Zerrissenheit der beiden Schwesterparteien in einer Jamaika-Koalition weiter vertiefen. 

In Ihrem 2012 erschienenen Buch „Die Patin“ sehen Sie Angela Merkel als verantwortlich für eine schleichende Zersetzung der politischen Werte. Wird sich dieser Prozeß nun fortsetzen? 

Höhler: Im „Worst Case“, ja. Schließlich haben die letzten Jahre etliche Brüche in unserem politischen und staatlichen Wertekonsens gebracht, etwa was die Rechtssicherheit angeht. So wurden in der Euro- und der Flüchtlingskrise Gesetze, auf die wir uns demokratisch geeinigt hatten, regelrecht beiseite geschoben. So etwas führt aber langfristig zum Abbröseln der Gewißheiten, die die Bürger mit ihrem Staat verbinden. Lebten wir früher noch in der Überzeugung, daß es Grenzen und Normen gibt, die kein Politiker folgenlos übertritt, haben wir inzwischen die Relativierung dieser Grenzen erlebt. Ich vermute, daß es etwa deshalb der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, mehrfach abgelehnt hat, als Bundespräsident zu kandidieren. 

Was hat das miteinander zu tun? 

Höhler: Er weiß, daß er – obwohl Bundespräsident formal das höhere Amt ist – als Gerichtspräsident diese Angriffe auf unsere Verfassung besser abwehren kann. 

Aber hat Karlsruhe die mutmaßlichen Verfassungsbrüche der Regierung – allerdings unter Auflagen – nicht eher durchgewinkt?

Höhler: Daß Sie und viele Bürger und Beobachter in diesem Zusammenhang von „durchwinken“ sprechen, ist bezeichnend. Es zeigt, daß das Gericht offenbar inzwischen zögert, Normen, die elementare Voraussetzung für den Bestand des Rechtsstaats sind, durchzusetzen. 

Sie wollen sagen, das Gericht hat versagt? 

Höhler: Vorsicht, Sie vergessen, was es bedeutet, wenn man es als Verfassungsgericht mit einer veränderten Grundstimmung in einer Regierung zu tun hat, die ganze Serien von überprüfungswürdigen Gesetzen produziert. Denken Sie nur zum Beispiel an die sogenannte Energiewende – die man genauer als die Verstaatlichung der Energiewirtschaft bezeichnen sollte. Da etwa haben wir es mit dem schwerwiegenden Bruch von Rechtsgarantien gegenüber Aktionären und Eigentümern zu tun. Übrigens geht damit auch eine Beschädigung der Marktwirtschaft einher, denn wir erleben auf dem Sektor der Energiewirtschaft eine planwirtschaftliche Begünstigung bestimmter Gruppen bei gleichzeitiger erheblicher Benachteiligung anderer – im Namen von „höheren“ Zielen wird Verfassungsrecht ausgehebelt. Es ist doch auffällig, daß dies „zufällig“ in Frau Merkels Amtszeit geschieht, während es unter ihren Vorgängern nicht möglich war. 

Es gab auch unter anderen Kanzlern Skandale, die unsere politischen Werte beschädigt haben: die „Spiegel“- oder die Flick-Äffäre oder die Enteignungslüge Kohls. 

Höhler: In der Tat, der Umgang nach der Wiedervereinigung mit den Opfern der Enteignungen zwischen 1945 und 1949 war und ist ein Skandal – der bis heute andauert. Denn die Betroffenen warten heute noch auf einen Ausgleich. Aber wenn wir uns frühere Skandale ansehen, so sind in den meisten Fällen Konsequenzen gezogen worden, indem es zu neuen Rechtsregelungen kam, um ähnliche Fälle in Zukunft auszuschließen. Doch eben das können wir über die neuen Verwerfungen in der Ära Merkel nicht sagen. Im Gegenteil, hier werden Rechtsbrüche regelmäßig nachträglich legitimiert. 

In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie unsere „Demokratie im Sinkflug“, wie der Titel lautet. Auf welches Niveau drohen wir da zu fallen? 

Höhler: Moment, es ist nicht so, daß wir immer weiter abstürzen müssen. Wir können die Richtung ändern. Zum Beispiel indem wir wieder Kurs auf mehr Marktwirtschaft nehmen. Oder indem der Bundestag nicht mehr auf Kontrolle, Kritik und demokratischen Widerstand in politischen Fragen verzichtet, bei denen die Regierung Kritik und Widerstand eigentlich nicht erleben wollte. Schließlich ist das Parlament der Vertreter des Souveräns. Der Souverän ist der Bürger. Der Staat gehört den Bürgern. Die Führung der EU regiert im Sog der autokratischen Versuchungen in Europa: Ungarn, Polen, Türkei. Von der Faszination autokratisch herbeigeführter Erfolge sollten wir uns künftig nicht mehr blenden lassen. Die Vorstellung, daß die Entwicklung der EU durch demokratische Rückfragen der Bürger behindert werde, verleiht der EU unmerklich Züge einer gelenkten Demokratie. Diese Entwicklung wurde begünstigt, weil EU-Demokraten sich zutrauen, mit Autokraten wie Herrn Erdogan Verinbarungen zu treffen – ein Diktator in spe, der inzwischen mit Geiselnahmen reagiert. 

Wie soll eine Besserung zustande kommen?

Höhler: Etwa wenn jetzt nach der Wahl eine mit großer Kraft und Entschlossenheit auftretende FDP wieder mitspielt und wir so einen nachhaltigen Impuls für mehr Marktwirtschaft bekommen. 

Sind Sie da so sicher? Das letztemal hat die FDP schwer enttäuscht.

Höhler: Die FDP ist an Frau Merkel gescheitert – wie die SPD. Mit Jamaika könnte das gleiche die Grünen treffen. Christian Lindner hat sich festgelegt. Sein Versprechen: Liberale Werte schlagen Machtbeteiligung.  

Ist nicht absehbar, daß die FDP sich mit ihren politisch korrekten Anliegen, etwa Digitalisierung oder Bildung, durchsetzen wird und dafür bei den unkorrekten, wie Euro oder Asylpolitik, einknickt? 

Höhler: Möglich, aber wir wissen es nicht. Ich glaube, daß sich die FDP sehr wohl bewußt ist, daß sie die Wähler nicht erneut enttäuschen darf. Und die ganze mittelständische Unternehmerschaft wird die Liberalen immer wieder an deren Aufgabe als Wächter des Marktliberalismus erinnern. Im übrigen, die Gefahr liegt meines Erachtens weniger darin, daß die FDP im Koalitionsvertrag Inhalte preisgibt, als vielmehr, daß das in der Regierungszeit danach geschieht. Dann werden sicher Inhalte auf der Strecke bleiben. Damit das aber nicht passiert, muß die Öffentlichkeit wachsam sein. Allerdings sehe ich nicht nur in der FDP eine Chance, sondern auch in der Demokratisierung der AfD. Warum sagt das keiner? Das Parlament geht in seine entscheidende Bewährungsprobe. 

Was meinen Sie damit? 

Höhler: Die AfD-Abgeordneten könnten ja mindestens vier Jahre bleiben und vermutlich danach wiedereinziehen wollen. Das bietet die Möglichkeit, sie und ihre Ideen parlamentarisch und demokratisch zu integrieren. Jeder weiß, daß  diese Leute keineswegs alle Extremisten sind, wie das bisher gerne dargestellt wurde. Tatsächlich kommen die Funktionäre, Mitglieder und Wähler der Partei aus allen Richtungen: von anderen Parteien, von rechts bis links sowie aus dem Reservoir der Nichtwähler. Und wenn der Bundestag nun unter Wolfgang Schäuble eine straffe Führung erhält, könnte das Parlament – als eine Art Workshop in Sachen Demokratie – auch die Neuen von der AfD für ein „Revival“ des demokratischen Wettbewerbs gewinnen.    

Ausgerechnet Wolfgang Schäuble, der sich in der Vergangenheit parteiisch, aggressiv und beleidigend zur AfD geäußert hat, als fairer Mediator? Ist nicht eher zu befürchten, daß die Regierung ihn als „Kettenhund“  gegen die AfD im Gewande des Parlamentspräsidenten betrachtet?

Höhler: Vom Kronprinzen zum „Kettenhund“? Herr Schäuble ist eher ein Fuchs. Denken Sie daran, daß er zunächst – zusammen mit den Griechen! – für deren Euro-Austritt war. Erst dann ist er an die Kette gelegt worden – um im Bild zu bleiben –, weil die deutsche EU-Chefetage Nachahmer fürchtete. Nein, ich glaube, Herr Schäuble wird als Präsident das Parlament stärken müssen. 

In den Landtagen ist zu beobachten, daß es einerseits zwar auch Fehlverhalten von AfD-Abgeordneten gibt, es andererseits den Etablierten aber keine Skrupel bereitet, das Präsidium zu instrumentalisieren, um die AfD durch unberechtigte oder völlig überzogene Ordnungsrufe als Krawallpartei darzustellen. 

Höhler: Natürlich hängt das auch von den Persönlichkeiten ab, die das Präsidium besetzen. Gleichwohl betrachte ich eben diese Herausforderung nun als die Nagelprobe für die Funktionsfähigkeit des neu gewählten deutschen Parlaments. Die Integration der AfD-Fraktion sollte dort als Chance begriffen werden. Eine so große Gruppe von Abgeordneten radikal zu bekämpfen, statt sie für einen konstruktiven Wettbewerb zu gewinnen, wäre ein fataler Fehler – so wie sich die quasi regierungsamtliche Isolationsstrategie gegen die AfD schon als schwerer Fehler erwiesen hat. Die Schweigegebote aus dem Kanzleramt waren „Kraftfutter“ für die AfD. Ganz abgesehen davon, daß Isolation auch antidemokratisch ist, da es sich bei den AfD-Abgeordneten um von den Bürgern demokratisch gewählte Mitglieder der Volksvertretung handelt. Und auch unseren politischen Diskurs mit so vielen Tabus zu belegen war ein Fehler. Auch dieser Tabuisierung verdanken wir den Erfolg der AfD.  

Was, wenn das Parlament diese Herausforderung, wie Sie sagen, nicht besteht?

Höhler: Wenn wir dieses Warnsignal wieder ignorieren, wenn wir die Kritiker wieder nur einfach kaltstellen, wird das Problem weiterschwelen und schließlich noch viel heftiger zurückkehren. Und worauf wir in diesem Zusammenhang künftig auch verzichten sollten, ist der Populismusvorwurf, der letztlich nur dazu dient, politisch Mißliebiges zu delegitimieren. Denn entweder jemand ist extremistisch – dann soll man das auch so benennen. Oder jemand artikuliert reale Ängste der Bürger – dann ist das nicht „populistisch“, also illegitim, sondern ein Warnsignal an die politische Führung. Wenn wir aber Bürger, die Sorgen und Nöte oder eine andere Meinung haben, in ein politisches Ghetto abschieben und sie isolieren, radikalisieren sie ihre Positionen. Und jene unter ihnen, die mit der Ohnmacht von Märtyrern nichts anfangen können, werden ihre Manieren dann auch entsprechend brutalisieren. Das gilt auch für unsere intellektuellen Dissidenten. Die Kaltgestellten, sozusagen unsere „politischen Flüchtlinge“, sammeln sich im Internet, wo sie in ihren Blogs und Foren publizieren, aber dennoch eben vom Mainstream-Diskurs weitgehend ausgeschlossen sind. Diese Ächtung, die einige Autoren und Publizisten in Deutschland erfahren haben, hat eine Radikalisierung ihres Denkens bewirkt. Denn so verhalten sich Exilierte, die in ihrer Enttäuschung beginnen, auch radikalen Thesen zu folgen. 

Und das gilt auch für die AfD?

Höhler: Die AfD liefert das unprofessionelle Echo auf die sehr professionelle Autokratie einer Kanzlerin, die seriösen Einspruch schon seit Jahren aus dem demokratischen Wettbewerb gekegelt hat. Immer mehr Wähler erkennen, daß die Enthaltung kein Mittel zur Abwahl von Politikern sein kann, deren Handeln unberechenbar erscheint. Der Einspruch des Souveräns gegen bürgerferne Politik sucht sich also neue Wege. Charismatische Gegner der Regierenden sind nicht in Sicht – also Abwahl der Herrschenden durch verschlüsselte Voten für die Randalierer im Exil. Das Parlament des Präsidenten Wolfgang Schäuble wird zur Bühne der Entscheidung. 






Prof. Dr. Gertrud Höhler, erlangte durch zahlreiche Medien- und TV-Auftritte Bekanntheit. 2012 erregte ihr Buch „Die Patin. Wie Angel Merkel Deutschland umbaut“ Aufmerksamkeit. Geboren 1941 in Wuppertal, lehrte sie Literaturwissenschaft und Germanistik in Paderborn, war Beraterin von Deutsche­- Bank-Vorstandssprecher Alfred Herrhausen und Gastgeberin der TV-Sendung „Baden-Badener Disput“ mit Alfred Grosser und Peter Sloterdijk. Sie publizierte etliche Bücher, aktuell: „Demokratie im Sinkflug. Wie sich Angela Merkel und EU-Politiker über geltendes Recht stellen“.

Foto: Publizistin Höhler: „Wenn wir die Kritiker wieder nur kaltstellen, werden die Probleme weiterschwelen und noch heftiger zurückkehren. Werden sie isoliert, radikalisieren sie ihre Positionen.“

 

 

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