© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Er hat das Volk zum Sprechen gebracht
Literatur: Zum Gedenken an den vor zehn Jahren verstorbenen Schriftsteller Walter Kempowski
Matthias Bäkermann

Hand aufs Herz: Kennen Sie Albert Drach oder Wilhelm Genazino? Oder Walter Kappacher? Und wenn ja, können Sie aus dem Stegreif wenigstens ein Werk dieser Autoren nennen? Da wird es bei den meisten vermutlich eng. Dabei sind diese Herren mit dem renommiertesten deutschen Literaturpreis ausgezeichnet worden und stehen in der Reihe anderer bekannter Büchner-Preisträger wie Gottfried Benn, Uwe Johnson oder Friedrich Dürrenmatt.

Der Schriftsteller Walter Kempowski, der vor zehn Jahren im Alter von 78 Jahren verstarb, zählt seltsamerweise nicht dazu. Der Erfolgsautor gehörte eigentlich nie richtig zu den Heroen der bundesdeutschen Literatur oder jenen, die sich dazu rechneten. Von der „Gruppe 47“ spöttisch abgewiesen, von Böll oder Walser bestenfalls ignoriert, beäugten ihn viele „Kollegen“ mit genervtem Augenrollen oder gar direkt feindselig, wie etwa Moralapostel Walter Jens – und eben die Mehrzahl der Platzhirsche in den Feuilletons der großen Blätter.

Den literarischen Spätstarter Kempowski, der erst in den sechziger Jahren schriftstellerische Gehversuche anstrengte, schmerzte das oft. Zuvor stand für den 27jährigen nach acht Jahren DDR-Knast, Abitur, Studium, Familiengründung und berufliche Etablierung als Lehrer in Nartum, tief in der niedersächsischen Provinz, im Vordergrund. Als verletzend empfand er auch die freche Ignoranz, mit der man seine Suche nach Antworten zu den Brüchen der deutschen Geschichte unter Hitler als „Verharmlosung des Zivilisationsbruches“ denunzierte, oder die Überheblichkeit, mit der man sein Œuvre als konventionelles „Dichten der Gemütlichkeit“ abtat, nur weil Kempowski und seinen literarischen Figuren etwas fehlte, das aus den Zeilen der anderen nur so troff: der erhobene moralische Zeigefinger und eine politisch-historische Beckmesser-Lehrhaftigkeit.

Auf seinem Weg zum Ruhm war für den Reederssohn allerdings immer jemand aus dem Juste milieu zur Stelle, der hilfreich zur Seite sprang. Fritz J. Raddatz zum Beispiel, der als Cheflektor des Rowohlt-Verlages seinem Schützling manche Tür öffnete und später als Kulturchef der Zeit dafür sorgte, daß Kempowski nicht sämtliche Pforten des literarischen Salons verschlossen blieben. Ebenso dazu zählt der Regisseur Eberhard Fechner, der 1975 mit seiner kongenialen Verfilmung von „Tadellöser & Wolff“ Kempowskis Werk einem Millionenpublikum zugänglich machte. 

Dieser dritte, die Zeit des Nationalsozialismus bis zum bitteren Ende 1945 beschreibende Teil seiner autobiographischen „Deutschen Chronik“ fand wegen seiner Authentizität und nicht zuletzt des lakonischen und manchmal viel Selbstironie offenbarenden Erzählstils gerade bei vielen Angehörigen der Erlebnisgeneration Gefallen. „Wie kein anderer hat er das Volk selbst zum Sprechen gebracht“, lobte viele Jahre später Bundespräsident Horst Köhler den Literaten, als dessen Schaffen in der Berliner Akademie der Künste mit einer Ausstellung geehrt wurde und dem überglücklichen Dichter späte Genugtuung beschied. 

Kempowski litt an der  deutschen Geschichte

Wie so viele, litt der Bestsellerautor an der deutschen Geschichte, besonders an den seelischen, moralischen und natürlich auch materiellen Zerstörungen des Krieges. Daß die Kempowski tief erschütternde Dimension der NS-Verbrechen dieses eigene Leid überschattete und somit unkurierbar zu machen schien, daran nagte er bis zum Schluß. Seine Sammelwut an „Plankton“, wie er die Stimmen von Zeitgenossen in Form von Tagebüchern, Briefen, Fotos und Aufzeichnungen bezeichnete, sollte eine vielgestaltige Collage ergeben, um in diesem Dilemma einer Antwort näher zu kommen. Das „Echolot“, sein „kollektives Tagebuch“, nahm damit Konturen an. 

Die „schrecklichen Vereinfacher“ blieben dem Bürgersohn nämlich immer suspekt. Lediglich mit einem Seitenwechsel zur antifaschistischen Staatsanwaltschaft auf Spurensuche nach Indizien im defekten deutschen Nationalcharakter zu gehen, um die „Schuldfrage“ ein für allemal festzustellen, war ihm zu billig. Und ein anmaßender Richterspruch wie jener von Günter Grass 1990, daß die Zweistaatlichkeit die gerechte Strafe für Auschwitz sei, wäre Kempowski nie über die Lippen gekommen. Die Heuchelei der kommunistischen Antifaschisten kannte der im konservativen Milieu aufgewachsene Rostocker – „Konservativ bis auf die Kochen, aber doch kein Nazi“, versuchte sein Vater im Krieg einem Dänen den Unterschied zwischen Vaterlandsliebe und NS-Anhängerschaft zu verdeutlichen –, der lieber Jazz hörte als HJ-Dienst („dieses Pack“) zu ertragen, nur zu gut. Jene ergriffen nach 1945 auch nur die erstbeste Gelegenheit, um die Methodik des Unrechts „rot zu lackieren“ (Kurt Schumacher). 

Außenseiter wegen seiner Abneigung gegen die Linken

Dieser Abstand zum Nationalsozialismus, den Hitlers früher Parteigänger Walter Jens oder SS-Mann Günter Grass eben nicht hatten, paarte sich bei dem eifrigen Tagebuchschreiber immer mit einem gehörigen Rochus auf die Linken; und nicht nur auf die in Pankow, die ihn wegen vermeintlicher Spionage in Bautzen wegsperrten. Im Post-68er-Milieu der Bundesrepublik machte ihn diese Haltung selbstredend zum Außenseiter. „Ich bin konservativ und liberal, und das darf man in Deutschland nicht sein. (...) Man darf ja auch heute nicht seine Meinung sagen in Deutschland. Versuchen Sie das doch mal! Ein Schritt vom Wege, und Sie sind erledigt“, beklagte Kempowski noch 2007 in der Schweizer Weltwoche die intellektuelle Stickigkeit. 

Zehn Jahre nach seinem Tod dokumentiert das Interesse, das Besucher seinem von einer Kempowski-Stiftung unterhaltenen Haus in Nartum bekunden, ebenso wie das Kempowski-Archiv in Rostock, wo die Stadtväter mittlerweile den Wert ihres berühmten Sohnes schätzengelernt haben, daß sein schriftstellerisches Wirken nach wie vor Konjunktur hat. Solange diese Schlüsselfrage seines Werkes unbeantwortet bleibt – auch sein alternatives „Plankton“-Archiv, das gigantische Ausmaße annehmende, allseits hochgelobte „Echolot-Projekt“ kann sie letztlich nicht beantworten –, wird das wohl auch noch eine Weile so bleiben.