© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

Auch nur ein böser Kolonialist
„Kolumbus-Tag“: In den USA tobt ein Deutungsstreit über den Entdecker Amerikas
Elliot Neaman

Lange Zeit wurde der 12. Oktober 1492, als Christoph Kolumbus mit seinem Flaggschiff die Bahamas-Insel Guanahani erreichte, als besondere Wegmarke für die Geschichte des Kontinents bejubelt, der später nach einem weiteren europäischen Entdecker, dem Florentiner Amerigo Vespucci, benannt werden sollte.  

Fast 525 Jahre später, am 12. August 2017, kam es rund um das ehrwürdige, von Thomas Jefferson gegründete Hochschulgelände in Charlottesville in Virginia zu Gewaltausbrüchen, als weiße Nationalisten und Gegendemonstranten bei einer der bislang blutigsten Auseinandersetzungen über die Beseitigung eines Südstaaten-Denkmals für General Robert E. Lee aufeinanderprallten. In den darauffolgenden Wochen wurden Statuen und Monumente im ganzen Land mutwillig zerstört, abgerissen oder von Kommunalverwaltungen abgebaut. 

Der „Kolumbus-Tag“ wird derzeit überall umgewidmet

Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis weitere historische Gedenkstätten ins Kreuzfeuer einer emotional aufgeladenen Debatte über das kollektive Gedächtnis geraten würden. Es sollte nicht lange dauern, daß auch die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus eine Neubewertung erfahren sollte. Bereits zum 500. Jubiläum der „Entdeckung“ 1992 wurden Stimmen laut, die mit Rücksicht auf die native americans diese „Begegnung“ der Kulturen in ein kritisches Licht setzen wollten.

In den letzten Wochen erhielt der New Yorker Bürgermeister Bill de Blasio eine Vielzahl an Beschwerden über die Kolumbus-Statuen der Metropole und in deren Umland. Eine davon ist ein großes, 1892 anläßlich des 400. Jubiläums der Ankunft Kolumbus’ in Amerika errichtetes Standbild, das Namensgeber für den Platz Columbus Circle in der südwestlichen Ecke des Central Parks war. Von diesem Platz werden alle Entfernungen von New York aus zu anderen Städten offiziell gemessen.

De Blasio beabsichtigt zwar noch immer, an der großen Kolumbus-Tag-Parade der Stadt Mitte Oktober teilzunehmen. Doch immerhin rief das New Yorker Stadtoberhaupt mit italoamerikanischen Wurzeln eine Kommission ins Leben, um all die „potentiell kontroversen“ Monumente in der Stadt zu prüfen. Das klang wie eine Drohung, die ihm auch Gegenwind von New Yorkern mit italienischem Hintergrund einbrachte. 

Anfang des Monats wurde das Wort „Mörder“ auf eine Statue von Kolumbus in Binghamton (N.Y.) gesprüht. In Yonkers wurde ein Standbild des Forschungsreisenden im Columbus Memorial Park enthauptet. In Minneapolis war eine Unterschriftenaktion im Umlauf, um die Kolumbus-Statue am State Capitol, dem Sitz des Repräsentantenhauses und des Senats von Minnesota, in der Nähe von Saint Paul durch das kürzlich verstorbene Popidol Prince zu ersetzen. Und so geht es weiter im ganzen Land.

Die Kontroverse um den Kolumbus-Tag ist nicht neu. Bereits zum 500. Jahrestag des Auslaufens von Kolumbus nach Amerika benannte die kalifornische Stadt Berkeley, eine selbsternannte Avantgarde der progressiven Linken, den Kolumbus-Tag zum „Tag der indigenen Bevölkerungsgruppen“ um. Weitere Städte im gesamten Land folgten, darunter Los Angeles, Phoenix, Denver, Santa Fe sowie Ann Arbor in Michigan.

Das einleuchtendste Argument, das bei all diesen Protesten vorzubringen ist, lautet, daß man den stets gefährlichen Irrtum begehe, die Vergangenheit mit Maßstäben der Gegenwart zu beurteilen. Denn es ist leicht, den Vorwurf zu konstruieren, daß Kolumbus für die Sklaverei, die Ausbeutung und den Genozid in der neuen Welt verantwortlich gewesen sei, doch dies wäre ein Zerrbild der Geschichte. Was die radikale Linke bei ihrer moralischen Empörung paradoxerweise ignoriert, ist die Tatsache, daß der Kolumbus-Tag in ganz Lateinamerika tatsächlich voller Stolz gefeiert wird, weil er den Beginn der lateinamerikanischen Identitätsbildung markiert – und damit eines neuen und pulsierenden kulturellen Völkergemischs aller Hautfarben und einer Verschmelzung europäischer, afrikanischer sowie einheimischer Sitten und Sprachen. 

In Puerto Rico wird er sogar zweimal gefeiert, einmal als Día de la Raza oder „Tag der Rasse“. „Rasse“ bedeutet für die Puertoricaner eine Art kosmischer Rasse, ein neues Volk, das bei der Ankunft der Europäer an den amerikanischen Gestaden zum Vorschein kam. Keiner bestreitet, daß Krieg, Versklavung und die Verbreitung von Krankheiten zu dieser Geschichte mit dazugehörten. 

Geschichte im Dienst einer aktuellen politischen Agenda

Ein weiterer ahistorischer Aspekt der Proteste gegen den Kolumbus-Tag hat mit der spezifisch amerikanischen Version des Feiertags zu tun. Er entstand im 19. Jahrhundert als örtliche Tradition in verschiedenen Landesteilen, in denen sich besonders viele Einwanderer aus Italien niedergelassen hatten. 1937 setzten sich die „Knights of Columbus“ (Kolumbus-Ritter) erfolgreich bei Präsident Franklin D. Roosevelt dafür ein, den 12. Oktober als offiziellen Feiertag in den Vereinigten Staaten einzuführen. Das Hauptargument für den Kolumbus-Tag war, das Engagement der Italiener zu würdigen, die in der Neuen Welt Fuß faßten. Eine Hommage an einen genuesischen Entdecker aus dem 15. Jahrhundert, der lediglich unter spanischer Flagge segelte, spielte in diesem Kontext eher eine sekundäre Rolle. 

Die Gegner des Kolumbus-Tages in jener Zeit waren rechte Vertreter der „white anglo-saxon protestans“ (WASP), der Ku-Klux-Klan und andere protestantische Fanatiker, die die Italiener verunglimpften und die Macht der katholischen Kirche in der amerikanischen Politik fürchteten.

Ebenso wie bei der Kontroverse um die Standbilder der Südstaaten wird auch die Politisierung der Art und Weise, wie amerikanische Vorfahren die Vergangenheit feierten, zunehmend in den Dienst einer aktuellen politischen Agenda gestellt. Eine kollektive Erinnerung läuft dabei Gefahr, grundsätzlich beschädigt zu werden. Es ist zwar richtig, daß die Statuen der Südstaaten, die heute angegriffen werden, überwiegend nicht unmittelbar nach dem amerikanischen Bürgerkrieg errichtet wurden, sondern vielmehr Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als indirekte „Jim Crow“-Gesetze die Vorkriegssklaverei ersetzten. Doch das heißt nicht, daß diese Denkmäler nicht von historischem Interesse sind, deren Bedeutung sich mit der Zeit veränderte. Und das gilt ebenso für Gedenkstätten für Christoph Kolumbus.

Zyniker wie Voltaire schrieben: „Die ganze Geschichte ist nur ein Bündel von Finten, für die wir uns die Toten zunutze machen.“ Wenn wir diejenigen Teile der Vergangenheit entfernen, die nicht in die kulturelle Erzählung unserer gegenwärtigen Gedächtniswärter passen, dann machen wir uns tatsächlich üble und selbstzerstörerische Finten für unsere Vergangenheit zunutze. Doch noch heimtückischer ist: Bei den tribalen Auseinandersetzungen über die Vergangenheit im heutigen Amerika zwischen den radikalisierten „America First“-Unterstützern und dem Trump-Widerstand geht es gar nicht einmal um die Vergangenheit, sondern vielmehr um politische Kämpfe, die sich derzeit aufheizen. George Orwell drückte es so passend und unheilschwanger in „1984“ aus: „Wer die Vergangenheit beherrscht, beherrscht die Zukunft.“