© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 41/17 / 06. Oktober 2017

„Die Grundlagen europäischer Tradition stehen am Pranger“
Der Publizist Michael Rumpf analysiert das trübe Gemisch aus Moralismus und Keynesianismus der politischen Linken in Zeiten der Globalisierung
Werner Olles

Ein Gespenst weniger in Europa, das des Kommunismus; ein System verabschiedete sich grußlos, eine Illusion, die denen, die in ihr lebten, als Alptraum erschien, platzte geräuscharm und weitgehend unblutig. Die Chimäre hatte ausgedient und wurde als Schindmähre aufs Altenteil geschickt, in den Stall der Geschichte.“ 

Beginnend mit dem Ideologieverlust des Marxismus läßt der 68er-Zeitgenosse und Publizist Michael Rumpf in dem Bändchen „Nachgänge“ nachgetragene Vorbehalte und Essays Revue passieren. So kritisiert er den Jubel der Intellektuellen über das Ende des Franco-Regimes in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre, die leider vergaßen, den Preis für die Demokratisierung Spaniens zu nennen: Rauschgiftkonsum, Pornographie, Kriminalität. Das Ende des Honecker-Regimes wurde dagegen stirnrunzelnd beobachtet, „dabei hatte Nietzsche bereits 1886 erkannt, daß der Sozialismus der jüngere Bruder des Despotismus war und seine Bestrebungen als reaktionär gebrandmarkt, da er die förmliche Vernichtung des Individuums anstrebe, welches ihm wie ein unberechtigter Luxus der Natur vorkomme und zum Organ des Gemeinwesens umgebessert werden solle.“ 

Das autoritäre Denken der Ideologie der Emanzipation

Einmal mehr verriet sich die Ideologie der Emanzipation als autoritäres Denken und „Emanzipation vom Sozialismus jedenfalls konnte es kraft Definition nicht geben, als Kirche der Emanzipation hatte man ein Anrecht darauf, von den regelmäßigen Emanzipationen, wie sie Kirchen befallen, verschont zu bleiben.“

Daß der Zeitgeist, wenn er „Offenheit“ predigt, damit die präventive Selbstentwaffnung jeder Art von Widerständigkeit meint, gilt nicht allein für Politik und Alltagsleben, sondern auch für die theoretische Sphäre: „Offene Grenzen, offene Märkte, offene Partnerschaft, offene Zukunft.“ Doch die neue Offenheit steht für offene Repression, die neue Toleranz ist die Toleranz gegenüber den mörderischen Konsequenzen der offenen Gesellschaft. 

Offenheit und Aufklärung als integrale Momente eines ungeheuren Illusionspotentials, wie es der Individualanarchismus schon im 19. Jahrhundert mit Stirners „Mir geht nichts über mich“ vorgedacht hat. Aus einer bizarren Ideologie, die nur „im Handpuppenmilieu einer intellektuellen Boheme“ gedeihen konnte, hat sich dieser Typus über viele Stationen weiterentwickelt bis zu seiner Banalisierung und Vermassung in der Postmoderne. Daß es jedoch mit dieser Art Gesellschaftspolitik bergab geht, hat sich auch bei den einfältigsten „Experten“ herumgesprochen. „Die Prognose vom Untergang des Abendlandes wandelte sich zur Prognose vom Abendland als dem Untergang“, das Zurückweichen der Politik vor den entfesselten Kräften eines trüben Gemischs aus Moralismus und Keynesianismus der gemäßigten oder radikalen Linken sei so hilflos wie naiv. Die Politik des Spektakels ist dann verwirklicht, wenn die Linksintellektuellen in ihren Medien über die neue Gesellschaft diskutieren und die Bürger das Recht haben, für linke Kandidaten zu stimmen. 

Doch genüge es nicht, Industrialisierung, Kapitalismus oder Kolonialismus anzuklagen: „Am Pranger stehen die Grundlagen europäischer Tradition.“ Auch daß jede Aufklärung ein Versprechen ist und ihrem Wesen nach die Struktur der Verheißung hat, beinhalte nicht, daß genug Brot für alle Menschenkinder wachse, daß – frei nach Heinrich Heine – Rosen und Mythen, Schönheit und Lust und Zuckererbsen für alle vorhanden seien. Wer „die Naturwissenschaften, den Rationalismus und Empirismus Europas für die drohenden ökologischen Katastrophen verantwortlich macht, wird es schwer haben, die europäische Aufklärung vom Verdacht der Mitschuld freizusprechen“, resümiert der Autor.

Michael Rumpf: Nachgänge. Nachgetragene Vorbehalte. Essays. Basiliskenpresse, Marburg 2017, broschiert, 136 Seiten, 16,80 Euro